Gepunchte Metaphern

Zu Clint Eastwoods „Million Dollar Baby“
(Start: 24.3.2005, Verleih: Warner Bros.)

März 2005

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Metaphern

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Der folgende Text ist eine unmittelbare Reaktion auf die Sichtung von Eastwoods Film. Reaktionen von Testlesern haben gezeigt, dass er als inkohärent, sexuell obsessiv oder zynisch aufgefasst werden kann. Ob dies nicht auch der weitgehend standardisierten diskursiven Reaktion in anderen Presserezensionen (siehe die kommentierte Presseschau) oder der ideologischen Verfassung von Eastwoods Film und seiner filmkulturellen Tradition angelastet werden könnte, mögen die LeserInnen selbst entscheiden.
Dass es hier zeitweise
politically incorrect wird, ist Programm des Textes. Es wäre zu hoffen, dass Political Correctness damit auf einer anderen Ebene wieder möglich wird. Ein paar Gedanken zu diesem Thema finden sich in einem anderen Text auf dieser Website.

Die Nachrichten von der sogenannten Oscar-Verleihung liegen noch nicht so weit zurück. In den Zeitungen war ein Mann zu sehen mit zwei Statuen in den Händen, verliehen in den Kategorien „Best Picture“ und „Directing“. Vier dieser Preise hat Clint Eastwoods Film „Million Dollar Baby“ insgesamt erhalten. Ich habe deshalb ein Problem mit meiner Wirklichkeitswahrnehmung. Schließlich ist es ein Totenbrief mehr für diese Kultur, den Eastwood geschrieben hat, und den eine ‚Öffentlichkeit‘ nun feiert, als sei er ein Heldenepos, wie sie die Welt schon viele gesehen hat. Wie erkläre ich das in 10.000 Zeichen? frage ich mich wie so oft in den letzten Jahren. Let’s have a try.

Eastwood hat einen von zahllosen Filmen der Geschichte gemacht, den man als einen – in diesem Fall metaphorischen – Kommentar zum Kino selbst lesen kann. Selbstreferenzialität hat man mit Niklas Luhmann als allgegenwärtiges Phänomen auszubuchstabieren gelernt. In Kinofilmen – und auch in anderen ästhetischen Formen – kann man, wenn man nicht unkundig oder nicht willens ist, nicht nur Selbstreferenzialität, sondern auch deren konkrete Aussagen erkennen.

Die Behauptung wäre: Das sogenannte „Boxerinnendrama“ Eastwoods enthält wie so viele andere Filme zahlreiche Anspielungen, die man auf das Kino und Massenmedien generell beziehen kann. Dies geschieht – wie eben so oft – nicht unmittelbar, sondern metaphorisch.

Die Metapher geht so: Hilary Swank spielt die Kellnerin Maggie Fitzgerald, die unbedingt Frankie Dunn (Clint Eastwood) zum Boxtrainer will und den mürrischen Macho schließlich dazu überreden kann. Es folgt ein schneller Aufstieg und ein jäher Fall, nach dem Maggie vom Hals an abwärts gelähmt ist und künstlich beatmet werden muss. Schließlich gibt Frankie ihr auf ihren Wunsch eine tödliche Injektion. (Dies verrieten bereits die Berichte über amerikanische Sterbehilfe-Debatten anlässlich des Films.) Maggie sieht im Boxen ihren einzigen Ausweg aus einem ihrer Meinung nach erfolglosen Leben. Sie schilt in Äußerungen ihre Familie, insbesondere ihre sich asozial gebende Mutter.

Die Erklärung der Metapher geht zum Beispiel so: Eastwood karikiert in seinem Film die märchenhafte Karriere einer für den Ruhm zu allem entschlossenen Frau. Dass dies eine Metapher für die Karriere in Hollywood sein könnte, wäre damit noch nicht plausibel. Kulturjournalisten assoziieren da lieber eine neue Variante des american dream.

Beginnen wir zur Stärkung des Gegenarguments bei einem deutlichen, aber peripheren Element des Films. Der Boxtrainer Frankie gibt sich als Feingeist. Er interessiert sich für Sprachen, und in der Zeit, als er Maggie trainiert und auch, als er ihr am Krankenbett Beistand leistet, lernt er Gälisch. Er gibt ihr den Spitznamen „Mo Cuishle“, nach dessen Sinn sie ihn vergeblich fragt, obwohl sie einen Mantel mit entsprechendem Aufdruck bei Kämpfen trägt. Er wird ihr den Sinn der Worte erst erklären, wenn sie ihren großen Sieg errungen hat.

Wer das nicht skurril nennt, denkt weiter. Es ist nicht so schwierig. Die Bedeutungspluralität sprachlicher Zeichen wird hier betont. Man kann in einer anderen Sprache sprechen, und der andere versteht es nicht, obwohl er einen Namen in dieser Sprache trägt. Eastwood konstruiert eine sprachliche Barriere zwischen seinen Filmfiguren, die das Problem der Übersetzbarkeit und sprachlichen Mehrdeutigkeit auf die Ebene des Filminhalts hebt; darüber hinaus ist seine eigene Verwendung des Gälischen in seiner Schreibweise fehlerhaft (siehe http://www.irish-sayings.com/love.php), was insofern als ein weiterer hinweisender Widerhaken verstanden werden kann.

Mörderische Haken bekommt Maggie von einer Gegnerin ab, die aus Ostberlin kommt, einer Hälfte der in der historischen Zeit der Handlung geteilten Stadt (zwei geografische Hälften / zwei Sprachen > clash as clash can). Sie ist eine ehemalige Prostituierte, womit wir beim nächsten Thema wären.

Die Sexualisierung weiblicher Gestalten in Filmen filmisch zu thematisieren, ist auf verschlüsselte (Hollywood) und unverschlüsselte Weise (Godard) immer wieder geschehen. (Godard wird selten oder gar nicht gezeigt und muss deshalb durch den Metaphern-Filter eines Puritanismus, der beim Freudschen Verschieben leider alles nur noch schmuddeliger macht.) Eastwood verlegt sich also auf die erste Variante und setzt seine Hauptdarstellerin hinter eine Windschutzscheibe, von der er selbst an einer Tankstelle die milchige Reinigungsflüssigkeit abwischt. Der Blick auf die Frau durch die Scheibe im Rahmen, die rinnenden Sekrete.

Beim „Scheibenwi(s)ch(s)en“ denkt der Filmfreund auch an eine Szene in Claude Chabrols Violette Nozière“, F 1978, in der eine Frau in ein Auto steigt und - sichtbar durch die Windschutzschreibe mit Scheibenwischern - beinahe vergewaltigt wird, während auf dem Soundtrack (Komponist: Pierre Jansen) Jürgen Kniepers Erkennungsmelodie von Dieter Hildebrandts politischer Kabarett-TV-Sendung „Scheibenwischer“ anklingt – wenn man es so hören will (siehe Real-Video [206 KB] oder MPG [7 MB]; Copyright). Mal nicht zu schweigen von der Szene in Lars von Triers „Forbrydelsens Element“ (The Element of Crime, DEN 1984), wenn Fisher (Michael Elphick) mit Kim (Me Me Lai) auf der Motorhaube Analverkehr hat, während sie sich an den in Bewegung befindlichen Scheibenwischern festhält (Selbstkommentar: „screwing a Volkswagen“).

In diesem Kontext ist auch das fortgesetzte Zitronenkuchenessen der Filmfiguren Eastwoods bemerkenswert. Hier lässt sich an Louis Malles "Atlantic City" (USA / CAN / F 1980) denken, der neben der ersten Szene noch in einer weiteren Sally Matthews (Susan Sarandon) leichtbekleidet zeigt, während sie sich mit gepreßtem Zitronensaft einreibt und ihr Nachbar Lou Pascal (Burt Lancaster) sie dabei heimlich beobachtet, was er ihr später gesteht.

Um noch einen Augenblick bei der Sexualisierung der Figur Swanks zu verweilen: Dreimal wird innerhalb dieses Films auf orale Befriedigung angespielt. Maggie lutscht die kleine Kerze auf ihrem Geburtstagskuchen ab. Als Bettlägerige muss sie einen Stift zwischen den Lippen halten, um eine Vollmacht zu unterschreiben. Bei einem ihrer Boxkämpfe hat Frankie ihr ein merkwürdiges Aufgebot bestellt, der ihrem vom Publikum skandierten scheinbar willkürlichen gälischen Namen den würdigen Rahmen verleihen soll. Eine Kohorte von Dudelsackpfeifern begleitet sie in die Arena, und Frankie kommentiert: „I got you some pipers.“

Sprache, die zweite. Das Thema des Boxens hat in der Filmgeschichte Tradition. In Eastwoods Film liegt es aufgrund der hier thematisierten Zusammenhänge näher als in anderen Beispielen, an die wörtliche Konnotation zum „box office“, der englischen Bezeichnung für die Kinokasse zu denken. Dass die Filmfigur Maggie auch für den Erfolg am „box office“ kämpft, wird niemand bestreiten. Den pekuniären Aspekt hebt der Titel des Films selbst hervor. Und Maggies Angehörige leben in einem trailerhome, in der ersten Worthälfte das Wort für eine Kinowerbung. Und die Hauptfigur Frankie ist ein "cut man", der die beim Boxen aufgeplatzten Wunden versorgt - und trägt damit assoziativ auch den Filmschnitt in der Berufsbezeichnung.

Weitere Konnotationsreihen kommen hinzu. Eine im Film wiederholte Weisheit Frankies lautet: „Everything in boxing is backwards.“ Rückwärtig in diesem Film wie in jedem anderen ist die Ausstattung der Räume. Hier ergeben sich nicht nur inhaltliche Bedeutungen von Gegenständen, sondern auch ornamentale und anthropomorphe Konstellationen, die die Phänomenalität von Filmgeschichte wesentlich geprägt haben. Eastwood hat zur Betreuung dieser Produktion einen Methusalem des Business engagiert: Henry Bumstead (geb. 1915) arbeitet seit 1948 an der Ausstattung von Filmen wie Hitchcocks „The Man Who Knew Too Much“ (Der Mann, der zuviel wußte, USA 1956); zuletzt waren es nur noch Filme Eastwoods.

„Million Dollar Baby“ ist auch hier nicht ohne Ironie. Wie in zahllosen anderen Szenen der Filmgeschichte werden inszenatorische Kommentare zur visuellen Präsenz von Hintergründen gegeben. In der Trainingshalle von Scrap (Morgan Freeman) findet sich etwa das rot geletterte Schild „No visitors beyond this point“. Entschuldigung, aber wir sehen. (Freemans oscarprämierte Nebenrolle lässt rassistische Assoziationen durchaus zu, auf die ob ihrer Abscheulichkeit hier nicht näher eingegangen werden soll. Er ist der Erzähler des Films, der einzelne Szenen aus dem Off kommentiert.) Sehr witzig aus dieser Perspektive die Szene, in der Scrap seine in stinkenden und löchrigen Socken befindlichen Füße in der bildlichen Randzone hochlegt, woraufhin Frankie ihm sogar anbietet, neue zu kaufen. In einer Szene bald danach sitzt links im Bild ein Boxpromoter, von dessen Gestalt auf den menschenleeren Hintergrund übergeblendet wird.

In einer weiteren signifikanten Szene sehen wir Dunn vor einem Fenstervorhang in Maggies Hospitalzimmer sitzen. Hier findet sich die visuelle Struktur eines Hämatoms, das wir zuvor an Maggies Bein gesehen haben, als Textilmuster wieder, das in diesem Bild neben Dunns sorgenzerfurchtem Gesicht zu sehen ist - worüber er sich hier sorgt, wird damit vieldeutiger, wenn man die Symbolik des Vorhang-Motivs (theatraler Raum, Stofftuch als Bildfläche) nicht ausblendet.

Ein ebenfalls selbstreferenzieller Motivkreis der Filmgeschichte sind die Untoten. Hier gehört „Million Dollar Baby“ zu der auffälligen Häufung von Koma- und Sterbehilfe-Dramen der letzten Jahre. Auch wenn nicht Komapatientinnen vergewaltigt werden („Hable con ella / Sprich mit ihr“, E 2002; „Kill Bill“, USA 2003) finden sich dabei Anspielungen auf Funktionsweisen filmischer und letzthin nekrophiler Fantasien. Die Paradoxie der lebendigen Anmutung unkörperlicher Schatten auf der Leinwand kann man auch in die Einsicht Frankies über Maggies Koma wenden: „By keeping her alive, I’m killing her.“ Darüber hinaus kann man die unbewegliche Position der bettlägerigen Maggie auch als bittere Parabel auf die Zuschauerposition im Kino und vor dem TV-Schirm lesen.

Sprache, die dritte. Das Verb „to shoot“ wird bekanntlich für ballistische ebenso wie für filmische Verfahren verwendet (wenn „shot“ nicht für Hochprozentiges steht). Schon in dem Junkie-Drama „The Man with the Golden Arm“ (Der Mann mit dem goldenen Arm, USA 1955, R: Otto Preminger) klingt es doppeldeutig, wenn der heroinsüchtige Frankie Sinatra nach dem nächsten „shot“ giert (und dabei nicht selten im Bild vor pictures sitzt). Bei Eastwood wird das Wort in zwei anderen Bedeutungen verwendet. Einmal ist es Scrap, der es im Sinne von „Chance“ verwendet und Frankie besänftigt, der sich Vorwürfe wegen des schweren Unfalls seiner Boxerin macht: „Because of you, Maggie got her shot.“ Das sei mehr, als andere im Leben zu erwarten hätten. Am Ende kündigt Frankie Maggie die erlösende Dosis an: „I’m givin you a shot and you stay asleep.“ Millionen von Filmzuschauern erfuhren ihre Art von Sterbehilfe auch schon in früheren Werken des Schauspielers Eastwood: „Hang ’Em High“ (Hängt ihn höher, USA 1968, R: Ted Post) etc.

Zu guter Letzt gibt Eastwood der „Popkultur“ seines Landes auch explizit einen druff. Maggies Mutter besucht mit Tochter und kriminellem Schwiegersohn erst einmal seelenruhig „Disneyworld“, bevor sie in der Komastation aufkreuzt – mit dem Ansinnen, ihre Tochter finanziell auszunehmen, und bekleidet mit einem Sweatshirt des Disney-Konkurrenten Warner Bros. (Distributor von Eastwoods Film) und deren Trickfigur Woody Woodpecker.

Gemäß Peter Sloterdijks Klage in den „Regeln für den Menschenpark“ (1999) über die „Briefsachen, die nicht mehr zugestellt werden“, sammelt auch Frankie in „Million Dollar Baby“ die an den Absender zurückgewiesenen Briefe, die er seiner Tochter geschrieben hat – und für die in der Psychologie der Filmhandlung Maggie eine Stellvertreterin ist. Und der gesamte Film ist als briefliche Erzählung konzipiert, erzählt aus der Perspektive Scraps, dessen Off-Kommentare Passagen eines Briefs an die Tochter Frankies sind.

Ohne eine öffentliche Aussprache – Koprolalie? – über die Bedeutungsproduktion von Filmen wie diesem von Clint Eastwood würde die Tragik eines informationellen „error-laden transfer“ (Lars von Trier zur Überspielung von Digitalvideo auf Filmmaterial) auch nach mehr als hundert Jahren flimmernder Leinwände nur noch fortgesetzt.

Nicht, dass ein Billy Wilder all dies und mehr nicht schon so viel früher, ein Jean-Luc Godard es nicht schon subtiler formuliert hätte – die Namensliste ließe sich endlos fortsetzen. Eine journalistische Öffentlichkeit bleibt für die meisten Filme die einzige, in der eine Reaktion auf diese Diskursbeiträge mit den üblichen Begrenzungen auf Zeichenzahlen festgehalten wird – jenseits mau verkaufter Filmliteratur, die es nur zu ausgewählten Regisseuren und Filmen gibt. Statt der absurden Steigerung von Sendezeiten, der stupiden filmischen Verdopplung eines zur Banalität erniedrigten Lebens, statt den Metaphernkaskaden, zu denen neben Filmkünstlern auch jene RezensentInnen neigen, die es ebenso sehen, aber nicht sagen wollen, wäre im Angesicht eines Todes, wie Eastwood ihn mit geübtem Zynismus zeichnet, eine Zäsur zu wünschen. Sonst bleiben alle nach wie vor – wie seit Beginn des 20. Jahrhunderts – im Kino lost in translation. Oder – in den Worten Scraps, der Frankies Geschichte erzählt – wir bleiben wie der verschollene Frankie und seine filmischen Gefährten „somewhere between nowhere and goodbye.“

 

Daniel Hermsdorf


Maggie Fitzgerald (Hilary Swank)
Warner Bros.


Maggie Fitzgerald (Hilary Swank) und Scrap (Morgan Freeman)
Warner Bros.


Frankie Dunn (Clint Eastwood) und
Maggie Fitzgerald (Hilary Swank)

Warner Bros.

 

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