Was will der Autor damit wagen?

Kommentare zu Leseerfahrungen
mit Publizistik und Wissenschaft

Mai 2005

 

17. Mai

Mercedes Bunz nimmt einem mit dem Blog-Namen "Existenzielles Besserwissen" von vornherein jeden Wind aus den Wäscheleinen. Im neuesten Eintrag (14.5.) weiß sie von Bekleidungsgewohnheiten: "Über Unterschichten: Eines Tages, so etwa gegen Ende der Neunziger, rutschte die Hose aus der Taille auf das Becken. Jungs trugen den Po ihrer Baggypants ja schon seit einiger Zeit in den Kniegelenken, jetzt konterten die Mädels im Spiel der eingeleiteten Absenkungstendenz."

1/2  Stalag 17
USA 1953. R: Billy Wilder

Paramount / Kabelkanal
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Hier weiß ich bestimmt nicht besser, aber anders: Ich halte die Baggypants für eine Erfindung von Billy Wilder. In Stalag 17 (USA 1953) finden sich in einer Szene sowohl die notorische rückwärts gedrehte Schirmmütze bei dem Erzähler des Films, Clarence Harvey 'Cookie' Cook (
Gil Stratton, Abb.1) wie auch die besagten Beinkleider bei Stanislas 'Animal' Kasava (Robert Strauss), der bei einer Party mit ihm tanzt (Abb.2) - hier in der Variation "Nachtpolter". Demnach wäre die Erfindung von Kappendreh und Hängehintern auf 1953 in einem für eine amerikanische Kriegskomödie nachgestellten deutschen Kriegsgefangenenlager mit amerikanischen Häftlingen zu datieren.
Frauen gibt es in diesem Film leider nur in der Baracke nebenan. Man muss sozesagen durch die Wand gucken, auch wenn man kein Voyeur aus einem britischen Film der 60er Jahre ist.

 

16. Mai

Bei der Vorbereitung eines Textes zum 60. Geburtstag von Rainer Werner Fassbinder lese ich einen Text von Rosa von Praunheim auf der arte-Internetseite. Da findet sich in der Beschreibung von Fassbinders schlechten Charaktereigenschaften der Satz: "Peter Kern, der halbblind war, riss er die Brille runter und trampelte auf ihr herum."
Der Fassbinder-Interessierte weiß, dass Herr von Praunheim hier irrt, wenn die biografischen Berichte stimmen: Es war Peter Chatel, dem Fassbinder einmal die Brille zertrat. Handelt diese Stelle also von einer anderen Kurzsichtigkeit? Der mangelnden Sorgfalt des arte-Internet-Redakteurs, von dem das Lesen von Fassbinder-Biografien nicht zu erwarten ist? Der historischen Kurzsichtigkeit einer Internet-Leserschaft, die den 'Fehler' von Autor und Redaktion ebenfalls nicht bemerkt?
Gehört aufmerksame Redaktion von Texten zur "Verantwortung für Mitmenschen"? Wird aufmerksame Redaktion von Produktionsweise und ökonomischer Logik der Internet-Publikation beeinträchtigt? Was hätte dann Fassbinders Kunst mit dem Einfluss von Technik und Ökonomie auf Kommunikation zu tun, wenn von Praunheim über Fassbinder schreibt, er sei ein Genie gewesen,
"auch wenn er darüber vergaß, dass Kunst auch Verantwortung für die Mitmenschen heißt"? Auch auch.

Volltext: http://www.arte-tv.com/de/service/alles-ueber-ARTE/ARTE-Magazin/856772,CmC=856764.html

 

3. Mai

In der Ausgabe der New York Times, die der SZ beiliegt, findet sich am 2. Mai 2005 auf S.15 ein Artikel über Matt Groening und seine TV-Trickserie The Simpsons: "350 'Simpsons' Shows And Still Going Strong" (Autor: David Carr).
Am Erfolg der Serie gibt's nichts zu deuteln, und über mangelnden Einfallsreichtum der Macher kann man wirklich nicht klagen. Die Serie hat zumindest ein eminentes Geschichtsbewusstsein für jene Trivialkultur, deren Teil sie ist. Davon soll hier auch nicht weiter die Rede sein.
Mir geht es um die Zusammenstellung der Abbildungen auf der Seite der NYT: Links der Erfinder der Serie, rechts die Hauptfiguren. Letztere entsprechen den grellen Farbgebungen, die man aus Comics seit Kindertagen gewöhnt ist. Niemand würde heute dazu auf den ersten Blick etwas sagen; FAZ-Redakteure schmücken sich mit Carl-Barks-Zitaten ebenso wie so mancher Uni-Dozent.
Dennoch: Der gelbe Gummihandschuh, in den Groening sein melancholisches Gesicht stützt, könnte zu denken geben. Es ist eine kleine bildliche Etüde darüber, dass mit der einheitlich grellgelben Farbe der Simpsons-Körper der Naturalismus der Gegenstandsfarbe aufgegeben ist. Das kann man in erster Linie ein Erbe des malerischen Expressionismus nennen: Hier, am Anfang des 20. Jahrhunderts, begannen die Maler, den Bildgegenständen Farben nach 'Gefühlswerten' zuzuordnen und keinen realistischen Anspruch mehr dabei zu erheben.
Für den Comic ist das, wie gesagt, zur Konvention geworden. Bedingung ist dabei aber sicherlich in erster Linie eine produktionstechnische: Die Arbeitsverfahren der Koloristen von Comicheften oder Trickfilmen, die zunächst auf Papier, dann auf transparenten Plastikfolien gearbeitet haben, bis die digitale Tricktechnik Zeichnung und Farbauftrag weitgehend obsolet gemacht hat, konnten so standardisiert werden.
Und die Signalfarbe spricht in besonderer Weise Kinder an, deren Farbempfinden noch nicht so ausdifferenziert ist.
Die Frage wäre natürlich, ob eine solche Ausdifferenzierung von der irrealen Farbzuweisung gefördert oder gestört wird. Es ergibt sich aus dieser Sicht eine eigenartige assoziationspsychologische Situation: Kinder des 20. Jahrhunderts f. machen zunehmend Erfahrungen mit Figuren, die sie als menschliche auffassen, die aber in geometrischer Weise vereinfacht sind - schon Donald Duck hat eine Art klassizistische Augenarchitektur, die an Fensterbögen erinnert - und auf eindeutig reproduzierbare Farbnuancen reduziert sind.
Man kann mit den Simpsons seinen Spaß haben - aber man kann sich auch fragen, welchen historischen Status die an unsichtbaren Pfaden von Animationsprogrammen dahergleitenden, bonbonbunten, aber mit Menschenstimmen sprechenden Charaktere einmal haben werden. Das können wir hier nicht abschließend beurteilen. An den Realitäten kann dies zunächst auch nichts ändern, wenn es darum ginge. Die Serie nach der Idee von "ex-hippie" Groening ist Realität in Millionen Fernsehhaushalten und Kinderzimmern: "more than $1 billion earned".

 

2. Mai

Eine der Leerformeln unserer Zeit: nicht zynisch werden. Heute, mal wieder, vorgefunden in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung. Anke Sterneborg befragt Ridley Scott.
Dieser klagt: "[...] es gibt so viel Zynismus in der Welt heute. Am faszinierendsten im Kino ist doch seine Fähigkeit, Leidenschaften auszulösen... Es kann aber auch reiner Schund sein, und es ist schade, dass seine Kraft so oft verschwendet wird. Nein, man darf nicht zynisch werden..."
Das Problem wird also nicht behoben, wenn man nicht benennt, was "Zynismus" oder "Schund" sein könnte. Und wenn man das tut, gerät man notwendigerweise in die Gefahr, als jemand aufgefasst zu werden, der so denkt wie das, was er beschreibt. Wenn man das tut, ist Political Correctness nicht möglich, weil diese eigentlich ausschließt, sich z.B. Minderheiten stigmatisierender Termini überhaupt zu bedienen. Und auch, wenn man sie an anderen symbolischen Produkten benennt, bringt man sich selbst in den Ruch, mindestens von ihnen infiziert zu sein. Andere AutorInnen haben für sich entschieden, in hermetischen sprachlichen Konstruktionen dieser Infektion zu entgehen. Der Nachteil ist, dass so etwas nur einen kleinen Kreis von Lesern erreicht. Die tummeln sich dann z.B. auf wissenschaftlichen Tagungen und kratzen sich bedeutungsvoll unter der Nase.
Das ist der Grund, warum auf dieser Website der Text zu Clint Eastwoods "Million Dollar Baby" als "grenzwertig" eingestuft erscheint. Ich belasse ihn jetzt in dieser Form, weil ich denke, dass die Widerlichkeiten von Eastwoods Humor, so gesehen, nur so thematisiert werden können.
Wenn man über die Entstehung von Zynismus in der modernen Konsumgesellschaft nachdenkt, wird als eine der ersten Voraussetzungen sicherlich eine bestimmte Form von Pragmatismus deutlich. Zynisch ist ja z.B., eigene Überzeugung vorläufigen Zwecken unterzuordnen, obwohl man weiß, dass die letzteren sich einmal als diesen Überzeugngen zuwiderlaufend erweisen können oder sogar müssen. Pragmatische Entscheidungen geben prinzipiell ihr Votum für die Zwecke ab.
Was an einem Gesprächsverlauf wie in dem Interview mit Scott - sicherlich in pragmatischen 20 Minuten eines Presse-Junketts geführt - stört, ist, dass solche Leerformeln stehen bleiben. Wenn es "heute" mehr Zynismus gibt als 'früher', was Scotts Formulierung impliziert, muss es ja wohl an denjenigen liegen, die sich nicht gegen den Zynismus zur Wehr setzen. Aber zur Wehr setzt man sich nicht, indem man lediglich pauschal diese Tendenz benennt.
Statt dass Scott seine Begriffe einmal mit Inhalt füllte (mögliche Frage: "Können Sie ein Beispiel für Zynismus in aktuellen Kinoproduktionen benennen?"), geht es nach "..." weiter mit einer Frage danach, dass Scott sich in seinen Filmen offensichtlich Jugendträume erfülle. Am Ende des Interviews finden sich dann ein paar Sätzen dazu, dass Scott früher viele Werbefilme gedreht habe. Scott: "In der Werbung habe ich gelernt, Entscheidungen schnell zu treffen, wir haben 70 bis 100 Spots im Jahr gedreht, das sind zwei pro Woche [...]." Das wird sicherlich der beste Nährboden für eine ganz bewusst unzynische Arbeitsweise gewesen sein, die sich jenseits der Anforderungen nach instrumentell ins Bild gesetzten Sex- und Gewaltreizen, jenseits der Zwänge, für Energieverschwender und Vermarkter ungesunder Lebensmittel zu arbeiten, aufrichtig nach den Bedingungen des eigenen Tuns fragt und daraus abgeleitete Prinzipien eisern durchhält. Bei der Meditation zwischen den Flügen von einem Werbespot-Drehort zum anderen ist dafür ja reichlich Zeit. Zeit, die man sich eben auch nehmen muss, denn sie ist ja nicht nur Geld.
Erst kommt das Fressen, das ist schon richtig. Bei Menschen wie Scott kommt danach aber nicht die Moral, sondern erst das Interview, in dem von Moral geredet wird. Es fehlt noch das dritte Pünktchen vor dem zweiten.


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