Wertewandel Reloaded

21.04.2008

Es war eher Ruf als Donnerhallschall, als Bundeskanzlerin Angela Merkel zu Beginn ihrer Amtszeit eine "Wertedebatte" anmahnte (filmdenken "berichtete" schon einmal). Danach folgten "Klimaschock", schwelender Irakkrieg, Niedriglohndebatte... und bald ist wieder Bundestagswahl. Innerhalb der Reihen der CDU existiert zwar als eine Geheimgesellschaft unter anderen der Zirkel "Konvent für Deutschland" um Roman Herzog, der mit Reformideen nach wie vor den sprichwörtlichen "Ruck" auf "La Ola"-Dimensionen bringen will. Doch scheint oft die Absicht schon die Erklärung. Und ein Blick auf die Website zeigt, dass man sich wesentlich um wirtschaftliche Belange kümmert. Unangenehmerweise trifft in technischen Medien in verstärktem Maße Wirtschaft auf Kultur, die Werte schafft. Was die Werte betrifft, gibt es so manches stille Ehrenamt, über das man nicht hinwegsehen sollte. Ansonsten aber zählen Zahlen, Statistiken und der unübersichtliche, aber dennoch aussagekräftige Indikator Massenmedien.

Nimmt man als Normalismus deutscher (Lebens-)Kultur, was sich laut Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) Millionen im TV ansehen, sind die "Werte" deutlich. In der Sendung "Schlag den Raab" (Pro 7, 05.04.2008, 3,7 Mio. Zuschauer) etwa wurden fünf KandidatInnen bejubelt, die natürlich für den Wettkampf mit dem Moderator sportlich sein müssen. Das geht so weit, dass es im Einspielfilm heißt, einer der Kandidaten begrüße Volleyball "als Ausgleich", doch wird nicht recht deutlich, von was - vom Sportstudium? (Es wäre allerdings zu hoffen, dass es mit dem Sendeformat gleich aus ist...) Das restliche Werteprogramm ist schnell umrissen: Autos bzw. Motorräder und Weltreisen (entweder schon nach dem Abi absolviert oder finanziert vom erhofften Gewinn, der an diesem Abend bei 2 Mio. lag, jedoch abermals nicht errungen wurde). Eine Kandidatin ist Marketingfrau für Parfüm und Hobby-Fallschirmspringerin.

Lichtjahre entfernt davon leben Zuschauer von Sendungen wie "kulturzeit", in der am heutigen Tag etwa von Jean Ziegler die für die nächsten Jahre bevorstehenden weltweiten Hungerkatastrophen prognostiziert werden und Buchautor Harald Schumann ("Der globale Countdown") darauf hinweist, dass wir zwei Planeten mehr bräuchten, wenn die Hälfte der Menschheit auf dem deutschen Wohlstandsniveau leben wolle (was eine globalisierte Wirtschaft als Absicht ja mit sich bringt). Es klingt immer wieder naiv, wird aber selbst in diesen Kontexten selten ausgesprochen: Von dem, was Sender wie Pro 7 großflächig als Lebenskultur proklamieren, gälte es sich definitiv zu verabschieden, wenn nüchterne und seriöse Berichterstatter nicht gänzlich Bullshit reden. Deshalb ist es ein unhaltbarer Zustand, dass ein Kulturbetrieb und Wirtschaftssystem Spielkinder wie Raab zu mächtigen Riesen anfüttern, die Aufmerksamkeit und Lebenszeit platttrampeln, während intelligente Zwerge bei denen, um die es geht - den Millionen Autofreaks, Spaßfliegern, Schrottmöbelzirkulateuren, Computerverschleißern etc. etc. - niemals Gehör finden. Dass in der strukturell vorbestimmten und gezielt ausgeübten Lenkung von Interessen und Konsumverhalten einige wenige besonders profitieren (statistischer Fakt), lässt an einem Begriff wie "Demokratie" nachhaltig zweifeln. Noch herrschen Hubert Burda & Co., die zwar lustigen Flachsinn reden (Videos auf YouTube oder Google ansehen!), aber Arbeitsplätze schaffen und vom Gewinnüberschuss Bilder von Gerhard Richter kaufen, zu denen es wenig Gescheites zu lesen gibt, auch wenn sie Millionen kosten. Die, die als Fachleute das Gescheite verschweigen, werden dann Kunst-Consultant für Versicherungsunternehmen.

Ist das Nachmittagsprogramm von absurden Schnulzen und der Verhätschelung von Haus- und Zootieren (die doch eigentlich als Wachhund oder schmackhafte Speise, nicht als Lebenspartner oder arbeitsintensiver Sozialfall vorgesehen sind) in nicht enden wollenden Formaten auf nahezu allen Vollprogrammen bestimmt, ist darüber hinaus der klassische konsumistische Hedonismus das Modell für jene, die gerne ein moderner Bürger sein wollen.

Aussagen wie etwa: seinen Kindern ein paar Gedanken auf den Weg zu geben, die sie auch nach der Werbepause noch nicht vergessen haben; oder sich Fragen nach der ökologischen Auswirkung von Fernreisen und Individualverkehr sowie deren komplizierter Abwendung zu stellen, kommen nicht nur auf Pro 7 nicht nur am Samstagabend nicht vor. Im ZDF heißt es dafür in den "heute"-Hauptnachrichten lapidar, laut Statistik sei die Sorge der Bundesbürger um den Klimawandel gewachsen, die Zahl ihrer Flugreisen jedoch ebenfalls.

Der Zusammenhang zwischen beidem, der in allerlei Berichten der überregionalen Zeitungen und öffentlich-rechtlichen Sender (dort jedoch bevorzugt zu ungünstigeren Sendezeiten und in den weniger frequentierten Sendungen) täglich betont wird, wird von menschlichen Hirnen, die dauerhaft Moderatoren wie Raab ausgesetzt sind, offensichtlich nicht hergestellt oder nicht in Verhaltensänderungen umgesetzt. Die Entscheider der zuständigen Wirtschaften wissen diesen Mechanismus für sich zu nutzen, und sie entscheiden in der Massenwirkung, wer darüber wo was redet.

Der Sender Pro 7, dessen wichtigstes "Zugpferd" Raab ist, zeigt mit "Schlag den Raab" neue Dimensionen der televisuellen Zeitvernichtung auf. Die "Unterhaltungsshow" dauert nicht mehr maximal zweieinhalb Stunden wie noch heute beim Konkurrenten Thomas Gottschalks Auftritt in "Wetten, dass...?" (ZDF), sondern vier Stunden oder länger, die mit einem Mix aus Kindergeburtstag (der real etwas Feines ist) und jenem sportlichen Wettbewerb gefüllt werden, der in allen möglichen Varianten des Profisports über die letzten 10-20 Jahre immer mehr Freizeit von TV-Konsumenten bestimmt, während das durchschnittliche Übergewicht steigt. Werbeagenturen und Pharmafirmen begrüßen dies freilich, ebenso die happy few, die keinen Sportunfall hatten oder überlebt haben, gegen Geld eine Kappe von "Viessmann" o. Ä. tragen und dabei gefilmt werden, wie sie dasselbe wie letzte Woche erzählen.

Weiteres Beispiel für zeitliche Amplifikationen des Programms ist bekanntlich die Pro-7-Sendung "Germany's Next Top Model", die in 16 wöchentlichen Folgen à 2 Std. nichts anderes tut, als ihre weiblichen Kandidatinnen in wechselnder, möglichst knapper Bekleidung halbturnerische Übungen vor der Kamera verrichten und sich dumm benehmen zu lassen. Dass Menschen, die diese Prozedur über Monate ihres Lebens mitverfolgen und den Rest ihrer Freizeit danach gestalten, im Alter von 18 Jahren das Wahlrecht erhalten, wird nicht nur Frau Merkel freuen.

Es handelt sich jedenfalls nicht um eine alljährliche Kirmes, bei der man mal durch die Geisterbahn fahren darf, sondern um kontinuierlich organisierten Schwachsinn, der Menschen zurücklässt, die ihr Leben gründlich sinnlos vertan haben - und anschließend von Quiz-Kerkermeister Günther Jauch auf RTL gequält werden ("Wer wird Millionär?"), wenn sie nicht wissen, wer z. B. die "Winterreise" komponiert hat (obwohl die eigenen Eltern angeblich Opernsänger sind). Eine Frage nach den Rabatten von "Ryanair" hätte mehr Chancen auf Antwort. Oder der nächste Knuddeleisbär, der nicht geschwächt im arktischen Schmelzwasser ertrinkt wie in einer Trickfilmszene von Al Gores Doku-Pamphlet "An Inconvenient Truth".

So schizoid ist etwa der Umgang mit dem Tier in der Konsumgesellschaft. Jenseits der täglichen Berichte über den leergefischten Nordatlantik oder illegale Schleppnetzfangzüge vor der westafrikanischen Küste, deren Fischer deshalb Hunger leiden, über die Unterbrechung von Nahrungsketten durch modische "Laubsauger" oder die kaviarbedingte Ausrottung des Stöhrs, der sonst bis zu 100 Jahren alt wird, hört man im Alltag - so ich vor ein paar Wochen - allenfalls an der Bäckereitheke ein Handygespräch wie: "Thunfischbrötchen ist alle - soll ich dir was anderes mitbringen?" Mobilfunk ist Informationsgesellschaft, nur was ist mit den Worten, die übermittelt werden? Bezahlt wird immer mehr für das private Mobiltelefon-Gequatsche (hohe Gebühren, zu denen auch Anrufer der Handybesitzer genötigt werden), aber immer weniger für gut recherchierte Inhalte (Niedergang des Journalismus im Internet-Zeitalter).

Derweil kommen in den Nachrichten, die von Topmodels und in der Betrachtung von Leibesübungen anderer sozialisierte Diddelkids nicht ansehen, die Einschläge näher. Was den Guckern von arte-Dokumentationen über die Praktiken von Saatgutkonzernen wie "Monsanto" seit geraumer Zeit durch die Angstträume schleicht, nimmt in der Verteuerung von Lebensmitteln und Versorgungsengpässen - dieser Tage in Bangladesh und Haiti - konkrete Formen an. Dass es sich um einen Krieg handelt, der keine Armee mehr braucht, ist nicht auszuschließen.

Doch dass die Massen, die den "tatort" auch dann nicht verstehen, wenn er "Müll" heißt (ARD, 20.04.2008), selbstredend die nächste nekromantische Selbstreferenz 90 Min. über sich ergehen lassen, zwischen Tod und Leben nur noch bedingt unterscheiden wollen, verwundert nicht wirklich. Sie ließen sich ja auch im ZDF vom "Alten" der gleichnamigen Serie schon allzu oft fragen, ob denn niemand "den Schuss gehört" habe.

Was die primäre Medienwirklichkeit betrifft, wird der Weltpolitiker wohl zurecht annehmen, dass ein paar drogentote Filmschauspieler eine quantité négligeable seien. Der ansonsten BILD-Zeitungs-kompatible Oliver Pocher brachte es unlängst in dem eigenartigen "Schmidt & Pocher"-Treffen überraschend luzide auf den Punkt, als er am Rande des "Grand Prix d'Eurovision"-Vorentscheids in Deutschland einen Fotoreporter mit der Frage anging: "Sie gehören also zu denen, die Britney umbringen?"

Einen realistischeren Komplementärmoment bot am 03.04.2008 die arte-Sendung "Durch die Nacht mit... Rosa von Praunheim und Todd Verow", in der Letzterer vor laufender Kamera einen ungeklärten Totschlag seinerseits (oder wie nennen Juristen das?) gestand. Während seiner Zeit als Strichjunge sei ein vollgekokster Klient ihm bei einem Faustfick - man muss wohl sagen: - um die Hand gestorben, worauf er die Polizei gerufen habe und geflohen sei. In der Beiläufigkeit von Verows Schilderung entstand einer der irritierendsten Augenblicke der hier erwähnten TV-Trouvaillen. Offen blieb, wie weit solche Erinnerungen - Verow erzählte von Schlimmerem, was ihn selbst betrifft - den Erzählenden noch berühren. Das Passagere des Sendekonzepts tat ein Übriges, dass diese Nachtseite im Schummerlicht verblieb.

Derweil arbeiten Medienwissenschaftler an staatlichen Universitäten z. T. ganz emsig daran, Studenten davon abzulenken, zu lernen, was Jean Baudrillard gemeint haben könnte, als er simulierte, der Irakkrieg habe nicht stattgefunden. Wenn - wie am 16.04.2008 in der ARD-Dokumentation "Die Schattenarmee der USA", Einschaltquote: 1,03 Mio. - die Traumatisierten und Amputierten aufmarschieren, sind ca. 75% der Millionen schon im Bett, die um 20.15 h den TV-Film "12 heißt: Ich liebe dich" geguckt haben und am nächsten Tag wieder im Beruf funktionieren sollen, der gute Handelsbeziehungen zu den USA ebenso erfordert wie den Benzinverbrauch, der bald privatisierte Bahnstrecken wegrationalisieren hilft.

Mit "Werten" ist etwas anderes gemeint - das ahnt manchmal sogar der Marx-Leser. Ob jene "Politiken", die gegenwärtige Kulturwissenschaft gern in den Plural setzt, in dieser Art und diesem Volumen als waberndes, unentschiedenes, immer wieder die gleichen Thesen und Antithesen, Beschwichtigungen und Alarmismen, verbal aggressive Pseudo-Weltgerichte wie "Deutschland sucht den Superstar" (RTL) oder regressive Ringelpietze aller Art aufstartendes Gewölk wirklich wünschenswert sind, ist ob manchen geistig-seelischen und körperlichen Kollateralschadens werbefinanzierter Medienöffentlichkeiten nach wie vor fraglich. Fraglich auch, ob infrastrukturelle Effekte zu erwarten sind von so erfreulichen aktuellen Buchtiteln wie "Consumed. Wie der Markt Kinder verführt, Erwachsene infantilisiert und die Demokratie untergräbt" (Autor: Benjamin R. Barber) oder "Superkapitalismus. Wie die Wirtschaft unsere Demokratie untergräbt" (Autor: Robert Reich).

Noch sind lediglich Wachstumsphänomene zu beobachten, die der Kapitalismus, wie wir ihn kennen, für seine Funktionstüchtigkeit beansprucht: mehr Katastrophenwarnungen und -meldungen auf den Sektoren Konsum, Weltwirtschaft, Umwelt für eine begrenzte Gruppe von Medienkonsumenten; noch mehr Betäubung in strukturell fragmentierten, einseitig interessierten und zeitlich gedehnten Dramaturgien für die wesentlich größere Zahl der User. Haben Sie jemals einen Politiker "Pro 7" sagen hören? Das wäre wohl ein Anfang. Und wir ahnen, von was.


Daniel Hermsdorf

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