Die Siege in der Rue Morgue

23.07.2007

"Wenn dieser Verdacht sich bestätigt, also die B-Probe dasselbe Ergebnis liefert, dann heißt das doch, dass unser Kontrollsystem funktioniert. Ihr müsstet uns loben. Wir sind doch der einzige Sport, der so hart an diesem Problem arbeitet."

Jens Voigts in der 20-h-"tagesschau" (ARD) vom 19.07.2007 hitzig vorgebrachte Erwiderung auf die Beendigung der Tour-de-France-Berichterstattung durch ARD und ZDF soll nicht im Orkus televisuellen Vergessens spurlos werden. Sie dokumentiert die Inversion der Idee des Sports, die sie mit dem Vorzeichen ihrer medialen Vermarktung zu erleiden scheint. Ausgangspunkt dieses Selbstverständnisses ist keine Erfahrung, die ein Mensch selbst mit sich macht - und nichts anderes ist Sport auf der Ebene der Erfahrung, wenn er nicht schon vom Beobachterstandpunkt aus zum Schauspiel wird oder zum Anlass, über Bier und Mobiltelefone produktzuinformieren, was man mit demselben Recht oder Unrecht im Werbeumfeld von serieller Gerichtspathologie oder der vorgespielten Verschrottung von Versandhausmöbeln tun kann.

Die Selbstverleugnung eines Sportlers impliziert diejenige seines Beobachters. Nicht mehr in Rede steht, dass eine mitfiebernde Aufmerksamkeit, ein begeisterter Ausruf hier nur harmoniert mit einer Leistung, die dem menschlichen Körper selbst entspringt und ihn im Wettbewerb zu anderen Leistungen dieser Art setzt - eine gutmenschliche Feststellung gewiss, aber umso trauriger, wie unzeitgemäß sie ist.

Voigts Äußerung nimmt nicht wahr, dass die Reaktion öffentlich-rechtlicher Sendeanstalten das unzweifelhafte Recht zur Abwendung darstellt, die überdies schon von den Programmverantwortlichen für einen solchen Fall angekündigt war. Die logische Operation, die Voigt vornimmt, ist symptomatisch für die kulturelle Verwerfung, die expandierende Medienindustrien neben manch Begrüßenswertem in den letzten 100 Jahren ins Werk gesetzt haben. Nach Art der jenseits der Skrupel angesiedelten Verleugnungsstrategien jeder aktuellen sogenannten "professionellen" Öffentlichkeitsarbeit wendet Voigt den Vorwurf in ein scheinbares Gegenargument: Unvermittelt gilt der Befund des Missstandes als die Leistung, die angeblich zu erbringen war. Die (Selbst–)Täuschung besteht schlicht darin, eine Hälfte des sachlichen Zusammenhangs auszublenden: Der vermutliche Tatbestand des Drogenkonsums zur körperlichen Leistungssteigerung entfällt, dafür setzt die Wiedergabe der Ereignisse bei dessen Nachweis ein. Auch wenn dieser noch gar nicht definitiv erbracht ist - die B-Probe steht wie von Voigt erwähnt noch aus -, wird er paradoxerweise von demjenigen, der seinen Sport verteidigen will, im Gestus seines Arguments schon als gegeben anerkannt. Von der vermeintlichen Tatsache aus wird deren Nachweis zum Qualitätsbeweis - jedoch der Qualität des Beweises jenes Missstandes, der zuletzt nach den Enthüllungen u.a. des deutschen Radsportprofis Erik Zabel als jahrelanger, allgegenwärtiger Begleitumstand des Sportereignisses ins öffentliche Bewusstsein gerückt ist.


Ja, mir san mim Drogl da
Beinahe anonymisierte Sehhilfe am Rande des Copyrights

Vorsicht Kunscht

Dass der Privatsender "SAT 1" zur Übernahme der Berichterstattung bereit ist, verwundert angesichts vergangener Sendeformate kommerzieller Anbieter wie "Eure letzte Chance" (Pro 7) nicht sonderlich. Die Gleichgültigkeit, mit der der Irrsinn tagelangen Musterns von mit chemischen Mitteln manipulierten menschlichen Muskeln an mechanischem Gerät - begleitet freilich von sachfremden Hubschrauberaufnahmen herrlicher Landschaften im god-like view - auch nach seiner formallogischen öffentlichen Deklaration als solcher ins nächste Glied der Verwertungskette weitergereicht wird, zeugt von der Resistenz der recht einseitigen Wertschöpfung gegen jedwede Reflexion. Zu gut geübt sind Moderatoren solcher TV-Sport-Dauerereignisse, die Ereignislosigkeit ebenso wie den Skandal mit endlosem Gequassel am Bewusstsein menschlicher Zuseher vorbei zu manövrieren, die der Quotenmessung zuliebe aber hoffentlich wenigstens körperlich vor dem Empfangsgerät anwesend bleiben. Dass die Tonlage des Lachens der Journalisten immer falscher, ihre off the record von Mannschaftsaufstellung und Fuzzy Context betonierte Ironie immer deutlicher herauszuhören ist, wird nicht mehr so lange so allgemein unbemerkt bleiben.

Medienwissenschaftler und Journalisten werden es jedoch noch eine Weile vorziehen, in ihre deleuzianischen Schimmelpilze zu beißen, statt sich dem seelischen Elend zu stellen, an dessen Produktion und Aufrechterhaltung sie in ihrem Verantwortungsbereich teilhaben. Der Stupor, auf den die obskurantistische Konstruktion - ich würde nicht sagen: der Konstruktivismus - solcher Ereignisse der Leibesertüchtigung Einzelner, die dabei vergehen, abzielt, ist vor allen Pillen und Spritzen dieses medizinischen Experiments schon der Selbstwiderspruch, der ihr historisches Bleiben in Frage stellt.

DIE WELT zitiert Voigt mit den Worten: "Das ist ja wie früher in der DDR: Zwei Leute entscheiden gegen den Willen des Volkes, schließlich haben sich zwei Drittel der Fernseh-Zuschauer gegen den Ausstieg ausgesprochen". Hier also eine andere Variante der Inversion, die das Unrechtsregime der polytoxikalischen Unterhaltungsmaschine auf diejenigen projiziert, die ihr noch etwas entgegensetzen. Dass das Gift längst die letzten Gehirnzellen mancher Konsumenten erreicht hat, bestätigt in dieser Lesart der Leserkommentar von Jörg Schneider in der Online-Veröffentlichung: "Jeder Unternehmer muss bei seiner Entscheidung die Interessen seiner Kunden berücksichtigen - ARD und ZDF eben nicht. Diese völlige Entkopplung vom Markt ist tatsächlich ein Zustand wie in der DDR - da hat Jens Voigt Recht."

Merke: Die Entkopplung ist der Markt. Und von der Entdeckung der Radioaktivität zum Fall der Mauer ist offenbar unbekanntlich nur a Katzensprung.


Daniel Hermsdorf

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