Reality-Check Die Kinocharts und die Wirklichkeit |
Februar 2006 Publizistik
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1 Himmel
und Huhn (Chicken Little, USA 2005, R: Mark Dindal) 2 - Eine
zauberhafte Nanny (Nanny McPhee, GB 2005, R: Kirk Jones) Für
den medialen Witwer - wie als Arbeitgeber der "Nanny" - findet sich
übrigens im Netz eine eigene Heimstatt: http://www.tvdads.com.
Betreffs
des 21. Jahrhunderts liest man da: "Now into the *sixth* decade of
primetime television, TV Single Dad shows are more popular than ever.
With the increase of cable / satellite / HDTV venues, the demand for
the familiar plotlines of Single Dad shows only increases as the years
roll by. 3
- Couchgeflüster - Die erste therapeutische
Liebeskomödie (Prime, USA 2005, R: Ben Younger) Rafi
(Uma Thurman), 37 und frisch geschieden, sieht blendend aus, hat einen
gutbezahlten Job und bewohnt ein schickes Apartment in New York. Man
möchte neidisch werden. Wäre da nicht das
unüberhörbare Ticken der biologischen Uhr und ihr
unerfüllter Kinderwunsch. Das kann man
mittlerweile verstehen: Bevölkerungsentwicklung, und was, wenn
Herr Bosbach eben doch nicht Recht hat? Genau, Rafi. Aber bitte nicht
extra neurotisch werden, selbst wenn der deutsche Verleih die
Komödie für "therapeutisch" hält. 4 -
München (Munich, USA 2005, R: Steven Spielberg) 1972, die
Olympischen Spiele verzaubern München. Die Welt schwimmt auf
einer Welle der Begeisterung. Nicht ganz, denn Mitglieder der
palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September"
nehmen elf israelische Sportler als Geiseln und fordern die Freilassung
von 200 in Israel inhaftierten Palästinensern. Sport ist in
jedem Fall eine sichere Nummer, Terrorismus ist auch spannend. Und
bevor das letzte Munch-Gemälde geklaut ist... Statt "Extra-Portion Magie"
jetzt Spiele, die "verzaubern".
Und warum zu den ungelösten Problemen der Gegenwart schweifen,
wenn die Vergangenheit liegt so fern? In Spielbergs Kino braucht es
immer die Metapher oder die historische Verschiebung. Sonst
könnte es unbequem werden im öffentlichen Diskurs.
Das wurde es hier aus anderen Gründen: wegen einer
umstrittenen Buchvorlage. Oder geht es hierbei noch nicht einmal darum?
Ist die vorhersehbare Folge der Wahl des Buches nicht das eigentliche
Rezept der Public Relations, das alle anderen möglichen Fragen
verdrängt? Wer ist qua Interpretation, nicht bloßer
Inhaltswiedergabe, der "Schwarze September"? Und wer die
Palästinenser? "Noch während
die Aktion auf Hochtouren läuft, stellt der beauftragte
Mossad-Agent (Eric Bana) ihren Sinn mehr und mehr in Frage." Nanana! 5 - Walk the
Line (USA 2005, R: James Mangold) Die
Geschichte des jungen Johnny Cash und seiner Aufsehen erregenden Liebe
zu June Carter Cash wird von WALK THE LINE wieder zum Leben erweckt. 6
- Die Geisha (Memoirs of a Geisha, USA 2005, R: Rob Marshall) Die
Geschichte spielt in einer geheimnisvollen und exotischen Welt, die
auch heute nichts von ihrer Faszination verloren hat. Japan vor dem
Zweiten Weltkrieg: Ein Kind muss seine mittellose Familie verlassen, um
als Hausmädchen in einem Geisha-Haus Geld zu verdienen. Warum in der
Nähe bleiben, wenn das Ferne ist so bunt? Für ein
Kinobillett befinden wir uns in einem Hain von Kirschbäumen,
mit Pfauen und wohl auch einem Teich mit Seerosen und Brücke
darüber wie in dem teuren Bild von Monet. So jedenfalls ist es
auf dem Promotion-Foto von Sony Pictures zu erahnen: 7 - Zathura:
Ein Abenteuer im Weltraum (Zathura, USA 2005, R: Jon Favreau) Die beiden
Brüder Walter und Danny (JOSH HUTCHERSON und JONAH BOBO)
entdecken im Keller ihres alten Hauses ein mysteriöses Spiel,
von dem sie - während sie es spielen - immer weiter in den
dunklen Weltraum gezogen werden. Was mag das
für "ein mysteriöses Spiel"
sein? Und was, wenn der Weg in den Keller unausweichlich wird? 8 - Sommer
vorm Balkon (D 2005, R: Andreas Dresen) Ein
heißer Sommer in Berlin: Nike (Nadja Uhl) und Katrin (Inka
Friedrich) wohnen im gleichen alten Mietshaus im Osten Berlins und sind
die besten Freundinnen. Nike trägt ihr Herz auf der Zunge und
hat immer einen flotten Spruch parat - auch bei ihrer Arbeit als
Altenpflegerin. Katrin ist geschieden, sucht seit Jahren einen Job und
kümmert sich um den pubertierenden Sohn Max. Auf Platz 8 erfolgt der Einbruch des Realen,
und das in der einzigen deutschen Produktion. Mietshaus, Altenpflege,
Speditionsbetrieb in Person eines Lastwagenfahrers - das hört
sich nach Alltag an. Nach der Wahrnehmung von ein paar Szenen in der
Vorschau bin ich mir nicht sicher, ob Dresens Realitätsfimmel
tatsächlich Realismus bedeuten kann; oder ob es gewollt oder
ungewollt in penetranten Voyeurismus umschlägt, wenn die
Besuche des Pflegedienstes in aller Nacktheit vorgeführt
werden. Die Frage wäre immer: Ist das die Geschichte? Oder nur
eine Masche, um interessant und neu zu wirken? Oder noch etwas anderes?
Dazwischen die eingebifiten Leiber der Hauptdarstellerinnen und die
vorgebliche Nähe zum "Milieu", d.h. irgendwo bei erwachsen
gewordenem Girlietum und method acting
zu Ehren des working class hero. 9 - Der ewige
Gärtner (The Constant Gardener, GB/USA 2005,
R: Fernando Mereilles) Justin Quayle
(Ralph Fiennes), Diplomat im britischen Hochkommissariat in Nairobi und
begeisterter Hobbygärtner, führt ein beschauliches
Leben - bis zu dem Tag, an dem seine junge Frau Tessa (Rachel Weisz)
ermordet aufgefunden wird. Auch auf
Platz 9 soziale und politische Realität, hier aber in einer
britischen Produktion in internationaler und skandalöser
Perspektive: rücksichtslose Pharmaindustrie (tödliche
Menschenversuche an Afrikanern ohne deren Wissen), Korruption in
britischen Regierungskreisen. Das Lesen eines solchen Plots von John
Le Carré lässt mich denken an so etwas wie
Slavoj Zizeks Meinung in "Die Revolution steht bevor" (2002): "Diejenigen,
die 'wirklich etwas tun wollen, um den Menschen zu helfen', werden sich
an (zweifelsohne ehrenwerten) Projekten wie Medecins sans
frontières, Greenpeace, feministischen und antirassistischen
Kampagnen beteiligen, die von den Medien nicht nur toleriert, sondern
sogar unterstützt werden, selbst dann, wenn sie auf
ökonomisches Gebiet vordringen (etwa indem sie Unternehmen
anprangern und boykottieren, die ökologische Vereinbarungen
mißachten oder in ihren Betrieben Kinder
beschäftigen); solange sie eine gewisse Grenze respektieren,
werden derartige Projekte toleriert und unterstützt. Dennoch
ist genau diese Form von Aktivität ein perfektes Beispiel
für Interpassivität, dafür, daß
man bestimmte Dinge nicht tut, um etwas zu erreichen, sondern um zu
verhindern, daß wirklich etwas geschieht, sich etwas
Grundsätzliches ändert. Alle diese beherzten,
humanitären, politisch korrekten usw. Aktivitäten
lassen sich auf die Formel bringen 'Laßt uns ständig
irgend etwas verändern, damit insgesamt alles beim Alten
bleibt!'" (http://www.linksnet.de) 10
- The Dark (GB 2005, R: John Fawcett) In der
Hoffnung, ihre junge Familie wieder zusammenzuführen,
fährt die New Yorkerin Adelle mit ihrer Tochter Sarah nach
Wales. Dort lebt ihr Ehemann James in einem abgelegenen Farmhaus an der
Küste. Schon kurz nach der Ankunft erlebt Adelle einen
schlimmen Alptraum: Sarah verschwindet in den dunklen Tiefen des Meeres. Nach dem "dunklen Weltraum" von Nr. 7 sind
es hier also die "dunklen Tiefen des Meeres",
die hinan ziehen. Und die demografischen Probleme, die in
Nr. 2 und 3 explizit und ins Gegenteil verkehrt angesprochen
sind, werden auch hier zum Thema. Nicht Neurose oder Hysterie wie in
Nr. 1 beim Huhn, sondern ein "Alptraum"
ereilt Adelle. Sie wird "von Visionen
heimgesucht, die ihre schlimmsten Ängste offenbaren."
Sie hat hoffentlich "Der ewige Gärtner" gesehen und
weiß, dass es im Fall der Alpträume von
Pharmakonzernen auch real gefährlich werden kann. Doch nein,
hier führt - nach der "Extra-Portion
Magie" (Nr. 1) und der "exotischen
Welt" (Nr. 6) der Weg ins Mythische: Man ist "einer alten walisischen Legende auf die Spur,
wonach ein Toter dann zurückkehrt, wenn ein Lebender sich
opfert..." Die Frage ist innerhalb filmgeschichtlicher
Motivtraditionen, ob der Tote dadurch lebendig wird - oder ob die "walisische Legende" übersetzt
u.a. heißt, dass ein lebendiger Mensch als scheinbar
lebendiges, aber ontologisch lebloses bewegtes Abbild wiederkehrt, was
sich als mediales Phänomen selbstreferenziell innerhalb der
Filmhandlung rekonkretisiert? Die
Kino-Top-Ten erweisen sich so als ein bemerkenswertes Gesamtkunstwerk,
das mit großer Geschlossenheit an Themen der Zeit arbeitet -
unmittelbar oder antithetisch. Realistisch für die Lebenswelt
des Publikums sind hier mehrmals Familienverhältnisse
(Kinderlose, Geschiedene), Altenpfleger und Kraftfahrer.
(Kaufmännische, handwerkliche oder akademische Berufe kommen -
zumindest in dieser Kalenderwoche - nicht vor.) In den
überzähligen amerikanischen Produktionen (70%) zeigt
sich eine Tendenz zur Pathologisierung (psychoanalytisch benannte
Charakterzeichnung, Hysterisierung der Themen, Steigerung ins
Irreal-Übersinnliche). Personen des Alltags nehmen sich
exotisch aus unter der Mehrzahl von durchgedrehten Hühnern,
trunkenen Country-Sängern, übersinnlichen
Babysittern, gärtnernden Diplomaten und deren paranoiden, weil
pharmakonzernjagenden Ehefrauen, Geishas und alpträumenden bis
psychotischen New Yorkerinnen. Die
abenteuerliche Welt, die hier für zwei Stunden einen Ausweg
aus dem irdischen Jammertal ebnen soll, führt so in ein
metaphorisch und antinomisch gewendetes Herz der Realität, der
Realität des filmischen Mediums und dessen, was das System
Film für seine Umwelt bedeuten kann.
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