3. Metamorphosen der Maske

Anthropomorphismen in Billy Wilders Filmen

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Mai 2006

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Die visuelle Struktur des Gesichts gehört zu den wirkungsmächtigsten der Bilder (nicht nur) des Kinos. (Siehe auf dieser Website dazu den Essay "Inszenierte Blicke, starrende Fronten")

Billy Wilder beginnt seine Arbeit für den Film im Berlin der 1920er Jahre. Es ist die Hochzeit des filmischen Expressionismus, von dem bestimmten Konzepten von 'Ausdruck' folgend  in besonderem Maße repräsentierte Formen anthropomorphisiert werden.

Einer der ersten Kinofilme, in dessen Stabangaben Wilder als Drehbuchautor genannt wird nachdem er zuvor mehrere Jahre als Ghostwriter gearbeitet hat , ist "Emil und die Detektive" (D 1931, R: Gerhard Lamprecht). Hier wird in der ersten Szene die Maske wörtlich genommen: Kinder spielen einen Streich, und währenddessen tragen sie Masken, die ihre Augenpartie bedecken (Abb.1).


1  Emil und die Detektive
D 1931. R: Gerhard Lamprecht

MFA+
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Die Maske ist hier eine spielerische Tarnung. Der diensthabende Polizist ertappt die Lausbuben und beschwert sich bei Emils Mutter. Dies ist der Grund, warum Emil, als er kurze Zeit später in Berlin ankommt und feststellen muss, dass ihm sein gesamtes Geld gestohlen worden ist, sich nicht an einen Polizisten wenden will: Er befürchtet, ein aktenkundiger Straftäter zu sein. Dieser Plot, der nicht von Wilder, sondern aus Erich Kästners Kinderbuch stammt, verbindet die gesetzeswidrige Tat also mit dem Motiv der Maske. Und die Tat, die von Emil und seinen Freunden begangen wird, während sie Masken tragen, ist die einzige Voraussetzung für die folgende Haupthandlung, in der eine Gruppe von Kindern in Berlin den Dieb jagt, den sonst die Polizei gestellt hätte.

Dieser Zusammenhang ist deshalb nicht trivial, weil (nicht nur) bei Wilder der Umgang mit dem Motiv der Maske und allem, was ihr in irgendeiner Weise entspricht, in seinen inhaltlichen Valenzen selten wertfrei zu nennen ist. Die Frage, die schließlich zu stellen ist, ist vielmehr, ob darin nicht eine eminente Ironie des erfolgreichen Filmemachers zu sehen ist, der seine eigenen Mittel auf das Äußerste ironisiert.

Das Gesicht und die Maske gehören zur bildlichen Mechanik des Kinos wie keiner anderen Kunst und Bilderwelt. Sie bewirken auf einer rezeptionsästhetischen Ebene eine noch näher zu bestimmende Energieübertragung - auch dann, wenn Gesicht oder Maske nicht unmittelbar zu erkennen sind, sondern das abstrakte Prinzip der Bildkomposition bestimmen und erst auf den zweiten Blick die visuellen Strukturen prägen.

Ein eindrucksvolles Beispiel für expressionistische Filmästhetik ist Fritz Langs "Dr. Mabuse, der Spieler Ein Bild der Zeit" (D 1922). In dessen zweitem Teil "Inferno Ein Spiel von Menschen unserer Zeit" bricht der vielseitige Verbrecher Mabuse schließlich zusammen. In dieser Szene hat er eine Halluzination: Eine hölzerne Maske mit einem Strahlenkranz beginnt sich zu bewegen, starrt ihn unerbittlich an und scheint ihm zu Leibe zu rücken (Abb.2). In einem ganz anderen Kontext findet sich eine verwandte Form in einem Film von Billy Wilder: "The Spirit of St. Louis" (Lindbergh Mein Flug über den Ozean, USA 1957). Hier handelt es sich um den Motor jenes Flugzeugs, das Lindbergh über den Ozean tragen soll, von dem der Flieger (James Stewart) in der gezeigten Szene (Abb.3) sagt, er sei eigentlich "zu schön", um eingebaut zu werden und damit den Blicken entzogen zu sein. An dem blauen Metallkorpus sind weiße Formen angebracht, die wie die Elemente der konkreten Maske an den Stellen von Augen, Nase und Mund montiert sind. Die runde Form strahlt wie die Form in Langs Film nach außen in massiven Streben aus.


2  Inferno Ein Spiel von Menschen unserer Zeit
D 1922. R: Fritz Lang

Transit
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3  The Spirit of St. Louis
USA 1957. R: Billy Wilder

Warner Bros. / SWR
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Was in Langs Film über einen Super-Gangster als halluzinatorisches Gebilde mit bedrohlichem Charakter fungiert, wird in Wilders späterem Werk zu einem technischen Wunder, das die aviatorische Pioniertat ermöglicht und den Menschen zu einer 'übermenschlichen' Reise beflügelt. In anderen Werkkontexten bei Wilder ist es bedeutsam, dass er hier eine besondere Form von Raumüberwindung, den Weg von einem Kontinent zu einem anderen jenseits des Ozeans zeigt. Solche Parallelräume haben in allen möglichen Varianten in Wilders Filmen eine metaphorische Bedeutung für den filmischen Raum als solchen. Wenn er hier den handlungslogischen Motor der Aktion im konkreten wie übertragenen Sinne einer berühmten Maske des filmischen Expressionismus nachempfindet, ist dies zugleich eine metaphorische Aussage über die Funktionalität der Masken und maskenhaften Formen, die selbstreferenziell auf filmische Formen verweist. Wie Lindbergh mit seinen Ingenieuren einen Motor einbaut, sind Maskenphänomene ein konstruktives Ingredienz der Inszenierungen des Kinos. Sie wirken machtvoll, sie manövrieren die Zuschauer in eine andere, illusionäre Wirklichkeit.


4/5  Mauvaise Graine
F 1934. R: Billy Wilder / Alexander Esway

Image Entertainment
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Den anthropomorphen Zusammenhang von menschlichem Gesicht und ihm ähnlichen Formen zeigt Wilder in seiner ersten Regiearbeit, "Mauvaise Graine", am deutlichsten. Hier ist es die Figur des Henri Pasquier (Pierre Mingand), der während eines Fußwegs durch die Stadt in mehreren aufeinander folgenden Doppelbelichtungen gezeigt wird. Zeitweise befinden sich die Radkappen eines fahrenden Autos (Abb.4) und zeitlich begrenzter in der Bewegung eines Schwenks die Fensterbögen einer Hausfassade (Abb.5) an Stelle von Augen oder Augenbrauen.

Diese Strategie findet sich wie in zahllosen anderen Beispielen der Filmgeschichte etwa auch in einer Einstellung wie der folgenden (Abb.6), in der das entsprechende Gestaltmuster auf die gesamte Bildfläche ausgedehnt ist und durch die Klarheit der Formen der Seitenansicht eines Autos und der Hausfenster deutlich gezeichnet ist. Eine Manipulation der Helligkeitswerte (Abb.7) soll noch einmal verdeutlichen, worum es geht.


6/7  Mauvaise Graine
F 1934. R: Billy Wilder / Alexander Esway

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Ein Blick ins Spätwerk zeigt, dass Wilder diese Strategie der Bildkomposition konsequent beibehalten hat. Ein Taxi in "The Front Page" (Extrablatt, USA 1974) zeigt sich in der nämlichen Weise: Seitenfenster als Augen, ein schwarzweiß gewürfeltes Dekor in waagerechter Ausdehnung als Mund (Abb.8).


8  The Front Page
USA 1974. R: Billy Wilder

Universal
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In einem Film wie "Witness for the Prosecution" (Zeugin der Anklage, USA 1957) wird die Bedeutung dieser Bildkomposition hervorgehoben, indem die erste Einstellung des Films eine solche zeigt. Hier ist es der Gerichtssaal, in dem der für die Handlung zentrale Strafprozess stattfindet. Die Stimme des Richters fordert zum Schweigen auf, was auf den Umgang mit solchen künstlerischen Strategien nicht erst seit Beginn der Filmgeschichte im Wesentlichen zutrifft. Und wenn hier der Kriminalfall eine Eifersuchtsgeschichte mit mehrfach tödlichem Ausgang in einem Saal spielt, der zu Beginn als bildfüllende Maske inszeniert ist, erhält diese Formation einen emblematischen Charakter. Die Maske ist hier der wichtigste Ort der Handlung. Wie ein Hoheitszeichen prangt das Schema auf dem filmisch repräsentierten Raum.


9  Witness for the Prosecution
USA 1957. R: Billy Wilder

MGM
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Eine diffizilere Variante findet sich in "The Emperor Waltz" (Kaiserwalzer, USA 1948), einer der ersten Dreharbeiten Wilders im amerikanischen Exil. Ein Handelsvertreter für Grammofone, Virgil Smith (Bing Crosby), ruht sich auf seinem Hotelbett aus, isst Kirschen und spuckt sie durch den Raum in einen Eimer, der im Vordergrund zu sehen ist. Die Formen der Möbel sind im Bildkader so angeordnet, dass sich in mehreren Kombinationen schematische Gesichter ergeben, wenn man seine Aufmerksamkeit entsprechend fokussiert. Dabei bestätigen sich offensichtlich die elementaren Begriffe der Gestaltpsychologie, die im frühen 20. Jahrhundert von Zeitgenossen Wilders aufgestellt werden. Rudolf Arnheim etwa gehört der zweiten Generation dieser wahrnehmungspsychologischen Schule an und emigriert wie Wilder in die USA. In "Kunst und Sehen" (1954/74) resümiert er die Erkenntnisse seiner Lehrer und Kollegen wie Max Wertheimer, Wolfgang Köhler, Kurt Koffka und Wolfgang Metzger. Hier kann man nachlesen, worum es geht: Formen werden in der visuellen Wahrnehmung des Menschen nach mehreren Grundprinzipien organisiert. Ausgangsthese der Gestaltpsychologie ist, dass mehrere Einzelheiten dabei ein neues Ganzes bilden. Die empirische Beobachtung führt zu dem Schluss, dass Formen mit annähernd gleichen Formen oder Farben oder aufgrund ihrer räumlichen Nähe zueinander im Wahrnehmungsbild miteinander kombiniert werden. Die Anordnung folgt dabei ebenso dem Streben nach Eindeutigkeit und Einfachheit, nach wiedererkennbaren Mustern. Und zu diesen gehört schon in den ersten Momenten des Lebens das Gesicht.

So lässt es sich auch für das Beispiel aus "The Emperor Waltz" sagen: Im Bild zu sehen sind Tür, Bettgestell, ein Bilderrahmen und Fragmente von Wänden und einem Tisch, daneben eine liegende, unvollständig zu sehende menschliche Figur und im Vordergrund ein Eimer. Die Farbgebung ist überwiegend braun. Die Helligkeitswerte differieren jedoch. So kann man seine Wahrnehmung auf einen dunkleren, matten Braunton richten, und die kassettierte Türfüllung links findet ihre Entsprechungin dem oben verschatteten Dekorelement der hoch aufragenden Lehne des Bettes. Beide Formen tendieren neben der ähnlichen Farbe zum Viereck. Geht man von diesen Partien des Bildes als Augen aus, rücken der Bilderrahmen in der Mitte und ein Element darunter in den Blick. Abb.10/11 zeigen in farbveränderten Varianten diese Organisationen des Bildfelds: Für die Nase kommt dann der Bilderrahmen (10) oder die herzförmige Aussparung der Vorderseite des Bettgestells (11) in Frage. Dementsprechend sind es Formen darunter, die als Mund gesehen werden können: Entweder der Teller mit den Kirschen (10), was als Speise zudem inhaltlich Sinn macht, oder das Oval der Öffnung des Eimers (11), mit dem der Mund der Figur im Bild über das Spucken ganz realistisch verbunden ist über eine räumliche Distanz, die in ihrer Ausrichtung gerade der hier betonten flächigen Sichtweise widerspricht. Smith spuckt die Kerne in etwa senkrecht zur Bildfläche durch den Raum, der im Bild als zweidimensionale Fläche wiedergegeben wird. Weitere Varianten sind Orientierungspunkte an einem Türbeschlag, der etwas helleren Gesichtsfarbe von Smith, dem Teller und einer geschwungenen Form des Bettes, die als solche an den Schwung von Lippen denken lässt (Abb.12). Oder man fasst Türfüllung, Bilderrahmen sowie Beschlag und Eimerrand zusammen (Abb.13).






9-13  The Emperor Waltz
USA 1948. R: Billy Wilder

MCA/Universal / WDR
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Diese Funktionen von Bildgestaltungen zielen zunächst auf das Unbewusste des Publikums. Die maskenhafte Überformung der Bildwelten tendiert zu etwas, das man subliminale Manipulation nennen kann: Etwas wirkt wie ein Gesicht, obwohl es keines ist. Nicht nur ist die Figur in "Mauvaise Graine" (Abb.4.) ein Autodieb; durch die Doppelbelichtung ihres Gesichts mit einem Auto, das so in eine artifizielle Maskenform integriert wird, ist die Konnotation zu einem unrechtmäßigen Diebstahl gegeben.

So geschieht es bereits in "Emil und die Detektive", wo in einer tricktechnischen Doppelbelichtung ein weiß gehöhtes Augenpaar durch eine Zeitung hindurchblickt, hinter der sich der Dieb Grundeis (Fritz Rasp) verbirgt. Die Augen des Kriminellen treffen auf der Zeitungsseite mit einem Bericht über "Tarife und Wirtschaftlichkeit" zusammen (Abb.14).


14  Emil und die Detektive
D 1931. R: Gerhard Lamprecht

MFA+
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Zu dieser Bildfindung kann man in Wilders späterem "Sunset Blvd." eine Entsprechung sehen, wenn die Filmdiva Norma Desmond (Gloria Swanson) durch die Jalousien vor einer Balustrade ihrer Villa blickt (Abb.15). Sie trägt dabei eine Sonnenbrille, deren Gläser ähnlich den weißen Augäpfeln der Figur in "Emil und die Detektive" zwei Lichtreflexe in der Mitte des Bildes einfangen. Die menschliche Figur wirkt eher verloren in der Einstellungsgröße der Totale, zudem entrückt durch Mauerwerk und Vorhang. Doch die beiden Lichtpunkte blitzen jäh aus dieser trägen Atmosphäre im Halbschatten hervor.


15  Sunset Blvd.
USA 1950. R: Billy Wilder

Paramount
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Eine solche motivische Kontinuität in frühen Drehbuch- und Regiearbeiten Wilders zeigt semantisch eine Tendenz auf, die für Wilders Ironie insgesamt kennzeichnend ist: Der filmische Effekt der gesichthaften Form und seine einzelnen Merkmale wie ein Augenpaar oder die Konstellation einer lichtbeschienenen und einer verschatteten Seite (Abb.14) werden von ihm auf inhaltlicher Ebene meist ins Zwielicht gerückt: ob als Dieb in "Emil und die Detektive" oder als Filmdiva in "Sunset Blvd.", die den Kontakt zur Wirklichkeit verloren hat und in einer eingebildeten, längst vergangenen Welt lebt.


Daniel Hermsdorf

 

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