Reality-Check

Die Kinocharts und die Wirklichkeit

Februar 2006

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Kalenderwoche 5. Ein Blick auf die Seite www.cinefacts.de. Dort finden sich die 10 erfolgreichsten Filme der Woche. Wie auf den meisten Seiten, die diese Angabe offerieren. Schon der elfte Film findet keine Erwähnung mehr (jenseits der Major-Produktionen ist Öffentlichkeit oft nicht öffentlich). Aber darum soll es hier nicht gehen. Hier soll aus der Begrenzung das Prinzip werden, insofern nur um die Filme in den dieswöchigen Kinocharts Thema sind. Und da ich diese Filme alle nicht gesehen habe, geht es um Fakten, die man der publizistischen Öffentlichkeit, v.a. der Seite www.cinefacts.de entnehmen kann. Die Spielregeln: Ich zitierte die ersten ein, zwei Sätze der Inhaltsangabe (kursiv gesetzt) und gebe wieder, was mir dazu einfällt. Also.

1  Himmel und Huhn (Chicken Little, USA 2005, R: Mark Dindal)
In dem neuesten Kinohit HIMMEL UND HUHN von Walt Disney Pictures dreht sich alles um ein zu klein geratenes, liebenswertes Huhn namens Chicken Little. Seit zwei Jahren nun versucht es, ein demütigendes Ereignis aus seinem Gedächtnis zu löschen und ein normales Leben zu führen: die Tatsache, dass es dachte, der Himmel fiele ihm auf den Kopf...
Die Frage wäre: Was ist überhaupt ein Huhn? Das letzte Mal, dass ich eins gesehen habe, war das der Geflügelpest zu verdanken, die armen Menschen v.a. in der Türkei ihr letztes Hab und Gut geraubt hat. Woran das wohl liegt? Und wie wir Ähnliches oder Schlimmeres in Zukunft verhindern können? Oder ist das Ganze schon eine Erziehungsmaßnahme derjenigen, die wissen, dass es bei der herrschenden Nachfrage nach Fleisch und der entsprechenden Tierhaltung zu solchen Katastrophen kommen muss? Und die deshalb ein solches Virus in Umlauf bringen, um Menschen die Gefahren zu verdeutlichen auf die einzige Weise, wie diese es mit allergrößter Mühe noch verstehen: durch Tatsachen, die man im Fernsehen zeigen kann? Aber tatsächlich ist diese Gefahr schon fast vergessen, denn die Geflügelpest findet dieser Tage nur noch vereinzelt Erwähnung im Hauptabendprogramm, und auch das wird sich geben.
Es ist Kinoabend, und "Himmel und Huhn" sind angesagt. Was ist überhaupt ein Huhn? Welches Kind, das diesen Film ansieht, hat schon mal ein Huhn gesehen? Oder gesehen, wo das Ei herkommt, das es isst: aus der Legebatterie oder der Bodenhaltung? In der Sendung mit dem Huhn?
Es ist ein Disney-Film - merkwürdig, dass die Werbung dafür an mir vollkommen vorbei gegangen ist. Da ist also ein kleines Huhn, das überreagierte: "es dachte, der Himmel fiele ihm auf den Kopf". Aber das passiert eben nicht. Die Geflügelpest im Fernsehen dauert nämlich nur zwei Wochen, dann kommt etwas anderes, "Schneechaos" oder so. Nach dem "hysterischen Anfall von damals" versucht das Huhn nun, sein Leben zu normalisieren. Denn es besteht ja kein Anlass mehr zu Hysterie. Wir sind nicht hysterisch, auch wenn "das Schicksal der Erde" u.a. "von einem kleinen neurotischen Huhn" abhängt. Das Vokabular der Psychopathologie hat etwa 100 Jahre gebraucht, um Literatur für Kinder zu werden.

2 - Eine zauberhafte Nanny (Nanny McPhee, GB 2005, R: Kirk Jones)
Wer den Haushalt des verwitweten Mr. Brown (Colin Firth) und die Erziehung seiner sieben, wüsten und ungestümen Kinder auf sich nimmt, braucht schon eine Extra-Portion Magie, um sich durchzusetzen.
In einem beschwichtigenden Arbeitspapier von Statistiker Gerd Bosbach auf www.nachdenkseiten.de findet sich die Angabe von (berechnet aus den letzten 25 Jahren in Deutschland) "
1,4 Kindern pro Frau". Wenn man sich in die Kinofantasie begibt, werden also aus 1,4 sieben Kinder, die Mutter ist dafür schon tot. Während in der Realität die besorgten Prognosen für die Bevölkerungsentwicklung von Bosbach gescholten werden, sie hätten etwa mit Voraussagen für das Jahr 2050 "bewusst oder unbewusst das dramatischste Jahr ausgewählt", gehört die Amplifikation zur rhetorischen Grundausstattung für die Kinoerzählung.
Könnte es sein, dass da etwas kompensiert wird, was in der Wirklichkeit eben gar nicht so ist? Na klar, Kompensatorisches gehört zum Kino, sagt der Kompensationsbefürwortungsbeauftragte. Aber zur Erinnerung: Vom hysterischen Huhn kommen wir nun zu einer erzählten Wirklichkeit, in der die Kinderzahl nur mit einer "Extra-Portion Magie" zu bändigen ist, während in der Wirklichkeit die Experten mühsam herumrechnen, ob es für unsere Rente noch reicht. Optimisten wie Bosbach greifen gar zu dem Argument für eine gesicherte Zukunft, den Pillenknick habe man auch nicht voraussehen können. Also, äh, was Voraussagbarkeit betrifft. Außerdem hofft er auf 2,5 Millionen Immigranten aus Osteuropa wg. Integration in die Europäische Union. Googlet man "Bevölkerungsentwicklung Osteuropa", findet man unter den ersten Suchergebnissen die Angabe: "in
den meisten Staaten der östlichen Hälfte Europas ist der Saldo aus Geburten und Sterbefällen bereits negativ. [...] Mit Sicherheit lässt sich vorhersagen, dass alle Staaten der östlichen Hälfte Europas in den kommenden Jahrzehnten mit einer Abnahme der Einwohnerzahl rechnen müssen." (http://www.berlin-institut.org) Die "Realität der Massenmedien" (Niklas Luhmann) ist ein Puzzlespiel - eines, in dem kein Einzelteil zum anderen passt.

Für den medialen Witwer - wie als Arbeitgeber der "Nanny" - findet sich übrigens im Netz eine eigene Heimstatt: http://www.tvdads.com. Betreffs des 21. Jahrhunderts liest man da: "Now into the *sixth* decade of primetime television, TV Single Dad shows are more popular than ever. With the increase of cable / satellite / HDTV venues, the demand for the familiar plotlines of Single Dad shows only increases as the years roll by.
It's difficult to say how long this fascination with the genre will last, but stay tuned. The decade's barely half over!"

 

3 - Couchgeflüster - Die erste therapeutische Liebeskomödie (Prime, USA 2005, R: Ben Younger)

Rafi (Uma Thurman), 37 und frisch geschieden, sieht blendend aus, hat einen gutbezahlten Job und bewohnt ein schickes Apartment in New York. Man möchte neidisch werden. Wäre da nicht das unüberhörbare Ticken der biologischen Uhr und ihr unerfüllter Kinderwunsch.

Das kann man mittlerweile verstehen: Bevölkerungsentwicklung, und was, wenn Herr Bosbach eben doch nicht Recht hat? Genau, Rafi. Aber bitte nicht extra neurotisch werden, selbst wenn der deutsche Verleih die Komödie für "therapeutisch" hält.

 

4 - München (Munich, USA 2005, R: Steven Spielberg)

1972, die Olympischen Spiele verzaubern München. Die Welt schwimmt auf einer Welle der Begeisterung. Nicht ganz, denn Mitglieder der palästinensischen Terrororganisation "Schwarzer September" nehmen elf israelische Sportler als Geiseln und fordern die Freilassung von 200 in Israel inhaftierten Palästinensern.

Sport ist in jedem Fall eine sichere Nummer, Terrorismus ist auch spannend. Und bevor das letzte Munch-Gemälde geklaut ist... Statt "Extra-Portion Magie" jetzt Spiele, die "verzaubern". Und warum zu den ungelösten Problemen der Gegenwart schweifen, wenn die Vergangenheit liegt so fern? In Spielbergs Kino braucht es immer die Metapher oder die historische Verschiebung. Sonst könnte es unbequem werden im öffentlichen Diskurs. Das wurde es hier aus anderen Gründen: wegen einer umstrittenen Buchvorlage. Oder geht es hierbei noch nicht einmal darum? Ist die vorhersehbare Folge der Wahl des Buches nicht das eigentliche Rezept der Public Relations, das alle anderen möglichen Fragen verdrängt? Wer ist qua Interpretation, nicht bloßer Inhaltswiedergabe, der "Schwarze September"? Und wer die Palästinenser? "Noch während die Aktion auf Hochtouren läuft, stellt der beauftragte Mossad-Agent (Eric Bana) ihren Sinn mehr und mehr in Frage." Nanana!

 

5 - Walk the Line (USA 2005, R: James Mangold)

Die Geschichte des jungen Johnny Cash und seiner Aufsehen erregenden Liebe zu June Carter Cash wird von WALK THE LINE wieder zum Leben erweckt.

Endlich geht es wieder aufwärts! Zwei junge Menschen, die sich gefunden haben. Der, um den es geht, ist zwar unlängst verblichen, doch wir haben ja noch unsterbliche Songs wie "Walk the Line". Hier verbieten sich Zweifel von selbst. Lift up the receiver / I'll make you a believer...

 

6 - Die Geisha (Memoirs of a Geisha, USA 2005, R: Rob Marshall)

Die Geschichte spielt in einer geheimnisvollen und exotischen Welt, die auch heute nichts von ihrer Faszination verloren hat. Japan vor dem Zweiten Weltkrieg: Ein Kind muss seine mittellose Familie verlassen, um als Hausmädchen in einem Geisha-Haus Geld zu verdienen.

Warum in der Nähe bleiben, wenn das Ferne ist so bunt? Für ein Kinobillett befinden wir uns in einem Hain von Kirschbäumen, mit Pfauen und wohl auch einem Teich mit Seerosen und Brücke darüber wie in dem teuren Bild von Monet. So jedenfalls ist es auf dem Promotion-Foto von Sony Pictures zu erahnen:

Aber auch hier währt das Glück nicht für immer: "heimlich liebt sie den einen Mann, auf den sie verzichten muss." Ja, es ist nun nicht mehr zu ändern, aber die bedrückende Realität in einem "Geisha-Haus" von anno dunnemals filmt sich, wie die Münchener Geiselnahme, allemal angenehmer als irgendeine Gegenwart. Für alle, die keinen Kirschgarten hinterm Haus haben, eine willkommene Abwechslung.

 

7 - Zathura: Ein Abenteuer im Weltraum (Zathura, USA 2005, R: Jon Favreau)

Die beiden Brüder Walter und Danny (JOSH HUTCHERSON und JONAH BOBO) entdecken im Keller ihres alten Hauses ein mysteriöses Spiel, von dem sie - während sie es spielen - immer weiter in den dunklen Weltraum gezogen werden.

Was mag das für "ein mysteriöses Spiel" sein? Und was, wenn der Weg in den Keller unausweichlich wird?

 

8 - Sommer vorm Balkon (D 2005, R: Andreas Dresen)

Ein heißer Sommer in Berlin: Nike (Nadja Uhl) und Katrin (Inka Friedrich) wohnen im gleichen alten Mietshaus im Osten Berlins und sind die besten Freundinnen. Nike trägt ihr Herz auf der Zunge und hat immer einen flotten Spruch parat - auch bei ihrer Arbeit als Altenpflegerin. Katrin ist geschieden, sucht seit Jahren einen Job und kümmert sich um den pubertierenden Sohn Max.

Auf Platz 8 erfolgt der Einbruch des Realen, und das in der einzigen deutschen Produktion. Mietshaus, Altenpflege, Speditionsbetrieb in Person eines Lastwagenfahrers - das hört sich nach Alltag an. Nach der Wahrnehmung von ein paar Szenen in der Vorschau bin ich mir nicht sicher, ob Dresens Realitätsfimmel tatsächlich Realismus bedeuten kann; oder ob es gewollt oder ungewollt in penetranten Voyeurismus umschlägt, wenn die Besuche des Pflegedienstes in aller Nacktheit vorgeführt werden. Die Frage wäre immer: Ist das die Geschichte? Oder nur eine Masche, um interessant und neu zu wirken? Oder noch etwas anderes? Dazwischen die eingebifiten Leiber der Hauptdarstellerinnen und die vorgebliche Nähe zum "Milieu", d.h. irgendwo bei erwachsen gewordenem Girlietum und method acting zu Ehren des working class hero.
Ein Interview mit Dresen (Kinomagazin, 3 sat, R: Peter Kremski, 2005) mit dem Motto "Suche nach der Wirklichkeit" wies schon in diese Richtung. Wenn Dresen meint, Film und mediale Öffentlichkeit hätten essenziell etwas damit zu tun, dass Schauspieler vor Kameras Unerwartetes tun, ist das natürlich eine Meinung, eine andere Definition der Realität seines Tuns.

 

9 - Der ewige Gärtner (The Constant Gardener, GB/USA 2005, R: Fernando Mereilles)

Justin Quayle (Ralph Fiennes), Diplomat im britischen Hochkommissariat in Nairobi und begeisterter Hobbygärtner, führt ein beschauliches Leben - bis zu dem Tag, an dem seine junge Frau Tessa (Rachel Weisz) ermordet aufgefunden wird.

Auch auf Platz 9 soziale und politische Realität, hier aber in einer britischen Produktion in internationaler und skandalöser Perspektive: rücksichtslose Pharmaindustrie (tödliche Menschenversuche an Afrikanern ohne deren Wissen), Korruption in britischen Regierungskreisen. Das Lesen eines solchen Plots von John Le Carré lässt mich denken an so etwas wie Slavoj Zizeks Meinung in "Die Revolution steht bevor" (2002): "Diejenigen, die 'wirklich etwas tun wollen, um den Menschen zu helfen', werden sich an (zweifelsohne ehrenwerten) Projekten wie Medecins sans frontières, Greenpeace, feministischen und antirassistischen Kampagnen beteiligen, die von den Medien nicht nur toleriert, sondern sogar unterstützt werden, selbst dann, wenn sie auf ökonomisches Gebiet vordringen (etwa indem sie Unternehmen anprangern und boykottieren, die ökologische Vereinbarungen mißachten oder in ihren Betrieben Kinder beschäftigen); solange sie eine gewisse Grenze respektieren, werden derartige Projekte toleriert und unterstützt. Dennoch ist genau diese Form von Aktivität ein perfektes Beispiel für Interpassivität, dafür, daß man bestimmte Dinge nicht tut, um etwas zu erreichen, sondern um zu verhindern, daß wirklich etwas geschieht, sich etwas Grundsätzliches ändert. Alle diese beherzten, humanitären, politisch korrekten usw. Aktivitäten lassen sich auf die Formel bringen 'Laßt uns ständig irgend etwas verändern, damit insgesamt alles beim Alten bleibt!'" (http://www.linksnet.de)
Aufschlussreich ein Pressezitat zum Film wie jenes aus dem SPIEGEL, das wikipedia vermerkt: "Darum bleibt für uns in jedem denkwürdigen Moment ersichtlich, warum 'Der ewige Gärtner' das Herz erreicht, ohne zu verblenden und zugleich an den kritischen Verstand appelliert, ohne zu predigen." Das heißt übersetzt: Der Kritiker wird zwar nicht im Kino geheult haben, aber es hört sich gut an, so etwas zu schreiben, denn er zeigt, dass er Gefühle hat. Über diese Emotionalität gibt er dabei nicht näher Aufschluss, sondern springt schnell in die entgegen gesetzte Kategorie, den "kritischen Verstand" (wenn man ihn hier einmal wörtlich und nicht metaphorisch-wortspielerisch nimmt). Und auch da fragt er nicht, was in einem solchen Zusammenhang Kritik sein müsste - etwas, das, wenn der Film etwas mit einer zu kritisierenden Wirklichkeit zu tun hat, ja offensichtlich lebensgefährlich sein kann  -, sondern er springt noch einmal, diesmal im Paradigma "Verstand" von der denkbaren Kategorie "predigend" zur Betonung "ohne zu predigen". Damit ist erstens garantiert, dass man selbst nicht als uncool angesehen wird, obwohl man sich vorgeblich "kritischen Verstand" bewahrt hat (und von denen, die diese beiden Worte anders verstehen, ebf. als cool angesehen wird); zweitens, dass die Kritik eine gewisse Unverbindlichkeit behält, nicht absolute Werte anruft, die verpflichten würden. Dies geschieht vielleicht, wie Zizek sagt, "
um zu verhindern, daß wirklich etwas geschieht, sich etwas Grundsätzliches ändert."

 

10 - The Dark (GB 2005, R: John Fawcett)

In der Hoffnung, ihre junge Familie wieder zusammenzuführen, fährt die New Yorkerin Adelle mit ihrer Tochter Sarah nach Wales. Dort lebt ihr Ehemann James in einem abgelegenen Farmhaus an der Küste. Schon kurz nach der Ankunft erlebt Adelle einen schlimmen Alptraum: Sarah verschwindet in den dunklen Tiefen des Meeres.

Nach dem "dunklen Weltraum" von Nr. 7 sind es hier also die "dunklen Tiefen des Meeres", die hinan ziehen. Und die demografischen Probleme, die in Nr. 2 und 3 explizit und ins Gegenteil verkehrt angesprochen sind, werden auch hier zum Thema. Nicht Neurose oder Hysterie wie in Nr. 1 beim Huhn, sondern ein "Alptraum" ereilt Adelle. Sie wird "von Visionen heimgesucht, die ihre schlimmsten Ängste offenbaren." Sie hat hoffentlich "Der ewige Gärtner" gesehen und weiß, dass es im Fall der Alpträume von Pharmakonzernen auch real gefährlich werden kann. Doch nein, hier führt - nach der "Extra-Portion Magie" (Nr. 1) und der "exotischen Welt" (Nr. 6) der Weg ins Mythische: Man ist "einer alten walisischen Legende auf die Spur, wonach ein Toter dann zurückkehrt, wenn ein Lebender sich opfert..." Die Frage ist innerhalb filmgeschichtlicher Motivtraditionen, ob der Tote dadurch lebendig wird - oder ob die "walisische Legende" übersetzt u.a. heißt, dass ein lebendiger Mensch als scheinbar lebendiges, aber ontologisch lebloses bewegtes Abbild wiederkehrt, was sich als mediales Phänomen selbstreferenziell innerhalb der Filmhandlung rekonkretisiert?

 

Die Kino-Top-Ten erweisen sich so als ein bemerkenswertes Gesamtkunstwerk, das mit großer Geschlossenheit an Themen der Zeit arbeitet - unmittelbar oder antithetisch. Realistisch für die Lebenswelt des Publikums sind hier mehrmals Familienverhältnisse (Kinderlose, Geschiedene), Altenpfleger und Kraftfahrer. (Kaufmännische, handwerkliche oder akademische Berufe kommen - zumindest in dieser Kalenderwoche - nicht vor.) In den überzähligen amerikanischen Produktionen (70%) zeigt sich eine Tendenz zur Pathologisierung (psychoanalytisch benannte Charakterzeichnung, Hysterisierung der Themen, Steigerung ins Irreal-Übersinnliche). Personen des Alltags nehmen sich exotisch aus unter der Mehrzahl von durchgedrehten Hühnern, trunkenen Country-Sängern, übersinnlichen Babysittern, gärtnernden Diplomaten und deren paranoiden, weil pharmakonzernjagenden Ehefrauen, Geishas und alpträumenden bis psychotischen New Yorkerinnen.

Die abenteuerliche Welt, die hier für zwei Stunden einen Ausweg aus dem irdischen Jammertal ebnen soll, führt so in ein metaphorisch und antinomisch gewendetes Herz der Realität, der Realität des filmischen Mediums und dessen, was das System Film für seine Umwelt bedeuten kann.


Daniel Hermsdorf

 

 

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