I. 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre

24.06.2005

Fritz Göttler leistet in der Süddeutschen Zeitung vom 21. Juni (S.15) seinen Beitrag zum 100. Geburtstag von Jean-Paul Sartre. Nach einer Reminiszenz an die Zusammenarbeit von John Huston und Sartre an der filmischen Biografie Simund Freuds - von der ein 800seitiges unverfilmtes Drehbuch Sartres übrigbleibt - weist Göttler dann noch auf Sartres Biografie von Gustave Flaubert hin, die ihn an den Schreibstil von Freud erinnert: "mit einfachen Beobachtungen anfangen, dann aber in der Darstellung sich in den Fluss des Schreibens zu verlieren, in einen Sog der Sätze, aus dem es kein Auftauchen gibt, einen Strudel der Wörter, in dem dahinzutreiben existenzielles Vergnügen bedeutet. Und wie in den praktischen Therapien, wo sich Sitzung an Sitzung reiht, wird es auch hier ein Ende der Analyse nicht mehr geben."
Das Ende des Artikels gibt es aber noch - es ist eben dieser zitierte Satz. Handelt es sich da um eine Selbstcharakterisierung Göttlers, der Tag für Tag uns aus der Welt des Kinos Bericht erstattet ("Sitzung an Sitzung"?) und sich nicht nur bei der hier thematisierten Gelegenheit in manch bedeutungsvollen Exkurs flüchtet, in dem es verklausuliert um etwas geht, das offen auszusprechen in dieser Zeitung scheinbar nicht erlaubt ist. Man wird sehen, was darüber noch zu berichten ist.
Hier jedenfalls muss man zunächst einmal sagen: Schmarren. Während in derselben Zeitung in regelmäßigen Abständen ganzseitige Betroffenheitsergüsse über die Zahl von klinischen Depressionen in Deutschland erscheinen, weiß es der Feuilletonist besser: Genuss heißt, wenn "sich Sitzung an Sitzung reiht", wenn es "ein Ende der Analyse nicht mehr" gibt. Wenn Göttler das meint, wovon er gerade angeblich spricht, ist es schlichter Unsinn - Analysen sind ja wohl dazu da, um einmal beendet werden zu können. (Auch sonst darf man andere darauf hinweisen, wenn sie offensichtlich ihre Zeit verplempern - Letztere fehlt dann ja anderswo, was, wie erwähnt, die Presse mit der Bundesregierung und anderen Wohlmeinenden im Chor beklagen.) Und Sprache ist nur für eine radikale art pour l'art Selbstzweck - ein "Sog der Sätze, aus dem es kein Auftauchen gibt". Ansonsten wäre es wohl lebensfreundlicher, zu sagen: Wenn's was bringt, macht man's, wenn's nichts bringt, lässt man's. Oder?
Dann gibt es aber diese paar Quadratzentimeter Zeitungspapier, wo Herr Göttler etwas hinschreiben soll. Wie alle anderen - deren Artikel oder TV-Berichte ich wahrgenommen habe - will er es zu einer offenen Polemik nicht kommen lassen und quetscht die Lust daran zwischen die Zeilen. Vergessen ein SPIEGEL-Artikel von vor ein paar Jahren, in dem davon berichtet wurde, dass in der ersten Buchausgabe von "Das Sein und das Nichts" zunächst ein ganzer Druckbogen fehlte - und niemand ihn zu vermissen schien.
Mittlerweile hat man aber alles von Sartre gründlich gelesen und kann sich in bequemer Distanz zu dem selbst streitbaren Philosophen - und als solchen weiterhin zu feiernden, ohne selbst streitbar werden zu müssen - reflektierenderweise verbreiten. Zwar ist auf derselben Seite der SZ in einem weiteren kurzen Artikel von lmue von der "Sprachneurose" Flauberts die Rede, auf die Sartre reagiere, aber das ganze Geschwafel und die Wichtigwichtig-Suadas des Meisters und derer, die sich in seinem Glanze sonnten - man konnte sowas unlängst in Dokumentaraufnahmen aus nämlichem Anlass auf arte erblicken - wagt offenbar niemand einmal ironisch zu beleuchten.
D.h. aber auch wohl, den Franzosen nicht ernst oder ernsthaft ironisch zu nehmen. In dem zuletzt erwähnten SZ-Artikel zitiert "lmue" aus Sartres Roman "Les mots" (Die Wörter, 1964), in dem der Autor von sich sagt: "'Ich bin kein Chef, und begehre auch keiner zu werden. [...] Weil ich eben nicht von der Machtkrätze befallen bin.'" Das ist, scheint es, die Lektion, die diejenigen, die Sartre zu Lebzeiten über Gebühr verklärten oder die offenen Fragen "Was bleibt? Was war da eigentlich und uneigentlich?" in letzter Konsequenz eher scheuen, beharrlich übersehen wollen - und auf allerlei sprachlichen Abwegen und Nebengleisen daherholpern, als wär's ein "existenzielles Vergnügen". Qu'est-ce que le journalisme?

DH

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