Philosophie und Sexualität

23.03.2005

"Philosophie, die einmal überholt schien, erhält sich am Leben, weil der Augenblick ihrer Verwirklichung versäumt ward." So heißt der Klappentext von Theodor W. Adorno, "Negative Dialektik" (1966). Ich habe das Buch nicht gelesen, deshalb dazu hier weiter nichts.
Nicht nur Philosophie harrt ihrer Verwirklichung. Worum es mir jetzt gerade geht, ist etwas anderes. Ich hätte die Frage nach der Psychoanalyse von (hier: philosophischen) Texten. Der Vorwurf eines Reduktionismus gegen die psychoanalytische Zeicheninterpretation bezieht sich ja auf die tendenziell beliebige Wiederauffindbarkeit von Patterns (z.B. Sexualsymbolen). D.h., im Grunde kann man mit Analogie-Argumenten (ein Turm ist ein Phallus, ein Argument ist ein Phallus)
alles und nichts erklären. Der Vorwurf stimmt bei einer großen Zahl von kunst- und filmwissenschaftlichen Texten, die ein endloses Verschiebespiel mit Paradigmen wie Sadismus/Masochismus, Phallus, Voyeurismus, Überdeterminierung usw. treiben.
Im Fall Martin Heidegger fallen mich bei allen Zitaten, die ich in letzter Zeit las, jedoch die psychoanalysierbaren Bedeutungsebenen derartig an, dass diese Argumentation, wie mir scheint, doch noch nicht vom Tisch ist (manche Autoren machen sich sicher ihren Spaß daraus, ihr ironisches Spiel damit zu treiben, aber darum geht es mir nicht). Ich kenne ausführlich nur "Der Ursprung des Kunstwerkes" (Stuttgart 1999, OA.: 1936) Und da formuliert Heidegger, entsprechend späteren Hinweisen auf die Erdigkeit seiner Vorstellungswelt, die in einem Dorf im Schwarzwald zu Texten wird, z.B.: "Weil ein solches Holen, ist alles Schaffen ein Schöpfen (das Wasser holen aus der Quelle)." (S.78)
Überträgt man diese Vorstellung auf andere Passagen des Textes - und hier macht Heidegger keine erkärenden Klammern -, fragt man sich allen vorhandenen Ernstes, ob einem dieses Denken wirklich etwas sollen kann. In ein paar Worten gesagt: Nehmen wir das menschliche Dasein einmal an als das Dasein eines Menschen auf diesem Planeten, der einen anderen Menschen finden möchte, mit dem er eine Beziehung führen kann. Das ist in der überwiegenden Zahl der Fälle ein Partner des anderen Geschlechts - wie auch immer. Bevor es etwas gibt, was man eine Liebesbeziehung nennt, muss der eine die andere und vice versa von sich überzeugen, und das kann bekanntlichermaßen sehr anstregend sein. Es gibt also immer wieder Widerstände: einer hat Angst (vor dem anderen oder vor sich selbst), einer weiß nicht so genau, einer will nicht, einer will noch nicht usw. Wenn eine Partnerschaft glückt, lieben die Menschen und streiten sie sich und haben manchmal Sex.
Davon würde Herr Heidegger natürlich nie sprechen. Im "Kunstwerk"-Aufsatz prägt er - wie auch in anderen Texten - aus meist vertrauten Worten neue Begriffe, um etwas zu beschreiben, von dem er sprechen möchte. Und dabei geht es - natürlich? - nie um Körperlichkeiten, sondern um Abstraktes, um das Sein und die Ideen.
Ohne in primitive Geschlechterstereotypen zu verfallen, sollte einmal die Frage erlaubt sein, was einen Text wie Heideggers aus dieser Perspektive strukturieren könnte. Nehmen wir einmal an, da geht es wie erwähnt in der Realität immer um einen Menschen und einen anderen, es geht um den Umgang miteinander, den Sex miteinander, es geht bei Letzterem dann auch schlicht darum, ob man angezogen oder nackt ist. Und nehmen wir an, dass dieses Thema auch dann eine Rolle spielt, wenn vorgeblich von etwas ganz Anderem die Rede ist - und zwar deshalb, weil es immer in Thema ist.
Sigmund Freud definiert das Traumsymbol - ein Beispiel für von unbewussten Tendenzen geprägtes menschliches Denken generell - ja in eben der analogischen Weise, wie Heidegger "Schaffen" und "Schöpfen" parallelisiert. So heißt es etwa: "Der menschliche Leib als Ganzes wird von der Traumphantasie als Haus vorgestellt, das einzelne Körperorgan durch einen Teil des Hauses." (Die Traumdeutung. Studienausgabe. Bd.II. Frankfurt a.M. 2000, S.232 [OA.: 1900]) Und was heißt dann z.B. bei Heidegger: "Die Wirkung des Werkes besteht nicht in einem Wirken. Sie beruht in einem aus dem Werk geschehenden Wandel der Unverborgenheit des Seienden und das sagt: des Seins." (S.74) Ist der "Wandel der Unverborgenheit des Seienden" nicht auch lesbar als die "wandelnde Nackte"? Oder die "Nackte auf oder in dem Bild an der Wand"?
Dass die Wahrheit in der Kunst oft als Nackte gezeigt worden ist, dürfte Heidegger nicht unbekannt gewesen sein, aber er macht es nicht zum Thema. Vielmehr entfaltet er eine mäandernde Rhetorik, in der er die Bedeutungsproduktion von Kunstwerken in einem permanenten Changieren von Bedeutung, von "Ver-" und "Entborgenheit" zu fassen versucht. Wenn man sich schämt, vom eigenen Körper und den eigenen Gefühlen zu sprechen, geschweige denn Freikörperkultur zu betreiben, mag Heidegger in diesem Sinne Recht haben: "die Sprache bringt das Seiende als ein Seiendes allererst ins Offene." (S.75) Bevor Männer ihr Unbewusstes oder ihre Hose öffnen, zeigt sich das Es / der Sex zunächst in den Worten. Ja, sich selbst, den Körper und die Gefühle in Worte zu fassen, ist schon schwierig: "Daß wir vom Dinghaften nie geradezu und wenn, dann nur unbestimmt wissen, also des Werkes bedürfen, das zeigt mittelbar, daß im Werksein des Werkes das Geschehnis der Wahrheit, die Eröffnung des Seienden am Werk ist." (S.71)
Wenn wir vom Phallus reden, wollen wir hier von Immanuel Kants "Ding an sich" lieber schweigen. Auch von anderen, z.B. 'weiblichen' physiognomischen Entsprechungen von Vorstellung und Sprache? Freud: "Ähnlichkeit, Übereinstimmung, Gemeinsamkeit wird vom Traum ganz allgemein dargestellt durch Zusammenziehung zu einer Einheit, welche entweder im Traummaterial bereits vorgefunden oder neu gebildet wird. Den ersten Fall kann man als Identifizierung, den zweiten als Mischbildung benennen. Die Identifizierung kommt zur Anwendung, wo es sich um Personen handelt; die Mischbildung, wo Dinge das Material der Vereinigung sind, doch werden Mischbildung auch von Personen hergestellt. Örtlichkeiten werden oft wie Personen behandelt." (S.318) Ach, da muss man wohl doch Adorno bitten: "An der Idee der Tiefe hat Philosophie teil nur vermöge ihres denkenden Atems. Modell dafür ist, in neuerer Zeit, die Kantische Deduktion der reinen Verstandesbegriffe, deren Autor, in abgründig apologetischer Ironie, sagte, sie sei 'etwas tief angelegt'." (T.W.A.: Negative Dialektik. Frankfurt a.M. 2003, 11. Aufl. [OA.: 1966], S.28)

Wir sollten aber Generalfeldmarschall Model und Modelle, Heideggers mögliches Meta-Denken und den Phallus noch nicht verlassen: "Das Aufstellen einer Welt und das Herstellen der Erde sind zwei Wesenszüge im Werksein des Werkes. Sie gehören aber in der Einheit des Werkseins zusammen. Diese Einheit suchen wir, wenn wir das Insichstehen des Werkes bedenken und jene geschlossene einige Ruhe des Aufsichberuhens zu sagen versuchen." (S.45) Dann gut's Nächtle. Zu ärgerlich nur: "So sei es gesagt, um in einer vielleicht befremdlichen Schärfe anzuzeigen, daß zur Unverborgenheit als Lichtung das Verweigern in der Weise des Verbergens gehört." (S.53)
Bei Niklas Luhmann kann man - trotz präziser Begriffe und sehr interessanter Theoreme - diese Tendenz ebenfalls sehen. Seine Denkweise hat eine alles erfassende Verdinglichung zur Folge. "Systeme" müssen definiert und voneinander abgegrenzt werden, damit alles außerhalb des jeweiligen Systems als "Umwelt" definiert werden kann. Wenn bei Heidegger trotz Verweigerns immer auch entborgen, in die Welt gestellt und auf sich beruht wird, muss bei Luhmann immer "unterschieden" werden: zwischen System und Umwelt, Subjekt und Objekt, Selbst- und Fremdreferenz. In einem Absatz finden sich die Vokabeln "Distanziersemantiken", "distinkte Ausschnitte", "Abgrenzung" und "bereitgestellt" (Die Kunst der Gesellschaft, Frankfurt a.M. 1999, 3. Aufl. [OA.: 1997], S.252).

Begriffe sind bei Luhmann ineinander geschachtelt: Was der eine auf jener Ebene, bedeutet der andere auf der nächsthöheren. Zu den logischen Trennungen kommen jedoch auch sprachliche Penetrationen und Fesselungen: "In einer gewissen Tradition, die uns aber nicht binden soll, würde man sagen: er muß Subjekte von Objekten unterscheiden können. Diese Sprachregelung ist jedoch ihrerseits erläuterungsbedürftig, und sie schränkt die Themen, denen wir uns nähern wollen, zu stark ein. Wir versuchen es daher mit einer formaleren Begrifflichkeit und sprechen, wenn es um Beobachtung zweiter Ordnung gehen soll, zunächst nur von einem Beobachten von Beobachtungen. Wir bleiben damit auf der Ebene von Operationen." (S.95) Gut, dass wir uns genähert haben, auch wenn wir auf der Ebene von Operationen und dem Beobachten von Beobachtung verweilen müssen.

DH

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