Kompetenzgerangel reziprok 2003-08

29.02.2008

Grenzwertig

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The Basis of Make-Up
Lese-Performance mit Heinz Emigholz im Hamburger Bahnhof
Berlinale, 16.02.2008

filmdenken


Lamento ist out, klar, denn ist doch alles knorke. In der Tat: In den letzten Jahren wird die deutschsprachige Filmpublizistik nicht müde, Bildungsgranatapfel an Wortdahlie zu katachresen. Nein, wirklich: Es ist doch so, dass wir uns informieren wollen. Und was wäre dazu besser geeignet als Funk und Print? Schließlich können wir uns nicht mit allem auskennen. Und da werden sie geholfen, sollste mal sehen.

Das lässt sich mühelos an einer kleinen, aber meinenden Phalanx von Beispielen zeigen, die uns in den letzten Jährchen, während sie vorbeiplätschern, im besten Sinn die hermeneutischen Schuhe ausgezogen haben.

In seinem Hörfunk-Beitrag "Jansens Kino" zu Alain Resnais' "L'Année dernière à Marienbad" (Letztes Jahr in Marienbad, F 1961; CD-Edition der SWR-Sendung: Bertz Verlag, 2003) zieht Peter W. Jansen (laut Coverinfo "zu den führenden deutschen Filmkritikern" zählend) allerdings nicht an Schuhen, sondern in den Bann des Poststrukturalismus: "Die Bedeutungshuberei, zu der 'Marienbad' zumal Anfang der 60er Jahre ein literarisch gebildetes Publikum verleitet hat, dieses Spiel ohne Grenzen führt zu nichts und unweigerlich aus dem ikonografischen Kontext des Films hinaus. Die Zeichen mit dem Bezeichneten in eins zu setzen, also ein Gleichheitszeichen zwischen Ikone und Text zu platzieren, heißt mit 'Marienbad' zu verfahren wie mit jedem anderen Film auch. 'Marienbad' aber will anders gelesen werden - als eine Differenz, in der Zeichen und Bezeichnetes eben nicht zur Deckung gelangen. Das nämlich ist das filmhistorische und kulturgeschichtliche Ereignis dieses Films - die Fantasie zu befreien, den Zuschauer zu aktivieren. Vergleichbar nur mit Kurosawas 'Rashomon' und Antonionis 'L'Avventura' und mit ihnen am Anfang eines filmsprachlichen Selbstbewusstseins, das erst Fellins '8 1/2' und Bergmans 'Schweigen' möglich machte, ist 'Marienbad' der Film, der nichts ist ohne seinen Zuschauer - das Kino, das sich nicht erzählen lässt, das sich nur dem Sehen erschließt."

Voraus geht eine Reihe von Beispielen, wie man angeblich den Film dunnemals gedeutet habe - als Story aus der Nervenheilanstalt oder vom "Tod in Gestalt des Fremden, der die Frau mit sich nehmen will" etc. Ja, das ist schon etwas mit dem Wahn und dem Tod. Und was sollte auch "Bedeutungshuberei" bei einem Film, der aus Erzähltechnik und Bildinhalt besteht, wenn man minutenlang eine dumpftönende Synchronspur zitieren kann? Wenn sich alles "nur dem Sehen erschließt?" Ja mei. Wir wollen eben nicht sagen, was man zur Wiederholung denken könnte. "Bild im Bild" hört sich im Radio fies an, und dann muss man noch das grauenhafte Zeugs von wegen Selbstreferenzialität erklären, und das bezahlt der SWR am Ende nicht. Und dann hat die Sendung nur eine halbe Stunde, anders geht's eben nicht. Und der nächste Film ist bestimmt wieder drei Stunden lang, da müssen wir Zeit sparen, sonst kommen wir da nicht mehr rechtzeitig hin und/oder die Hörer schalten ab. Und wir umarmen uns eh zu lange bloß selbst, als dass sich die sich selbst umarmende weibliche Hauptfigur nicht dem bloßen Sehen erschlösse. Ja, die Verhältnisse, die sind nicht so. Da machen wir's uns lieber "zwischen Ikone und Text" so richtig gemütlich und freuen uns einfach über alles, was "anders gelesen werden" will mit dem frischen Blub schwedischer Schweigeminute.

Noch besser geht es 2004 Katja Nicodemus in ihrer "Gespensterliebe" getauften ZEIT-Rezension von Jacques Rivettes "L'Histoire de Marie et Julien" (Die Geschichte von Marie und Julien, F 2003): "Seit jeher sind Rivettes Filme durchdrungen von einer mythischen Atmosphäre. Beharrlich kreisen sie um Geheimnisse, deren Auflösung niemand ernsthaft betreibt, am wenigsten der Regisseur selbst. Ob er einen Thriller, einen Gangsterfilm oder ein detektivisches Theaterrätsel dreht, stets schickt er seine Figuren durch eine Welt, die einem verwunschenen Irrgarten gleicht – so undurchdringlich wie die Vorsehung oder das Leben selbst. [...] Vielleicht ist Rivette wie diese Katze. Auch er kann die Verschwörung des Lebens nicht durchschauen und tapst doch mit ungeheurer Grazie in ihr herum."

Es hat uns in unserer Dialogfähigkeit bestärkt, wie der Regisseur in der 2007er Berlinale-Pressekonferenz zu "Ne touchez pas la hache" (Die Herzogin von Langeais, F 2007) die Frage nach der Relevanz der Balzacschen Verschwörungsszenarien der "Histoire des Treize" in melancholischer Luftmalerei zerfließen ließ. Seitdem wollen wir erst recht nichts mehr wissen von "Out 1 - Noli me tangere" (F 1971), dem Spiel mit dem Ritus und der Nachrichtenübermittlung, der kargen ironischen Paraphrase von Kinofloskeln, dem Schrei mit Fermate. Der Theatralität von Figurenkonstellationen, wie sie sich in "L'Histoire de Marie et Julien" auf einen tragikomischen Topos der Weltliteratur hin verdichtet (siehe "Alte, Der verliebte", in: Frenzel, Elisabeth [1999]: Motive der Weltliteratur. Ein Lexikon dichtungsgeschichtlicher Längsschnitte. Stuttgart, 5., überarb. u. erg. Aufl., S. 1-11). Der Satire, in der alles komisch ist, nur dann nicht, wenn die Schauspieler lachen.

Ja, richtig - "undurchdringlich" ist das, denn der Weg zum nächsten Bücherregal ist immer lebensgefährlich, jedes Gespräch könnte von der Filmpolizei abgehört werden, und da stapelt man lieber tief bis zum deep end. Auch richtig, dass die "Auflösung" solcher "Geheimnisse [...] niemand ernsthaft betreibt". Schließlich haben wir schon alle Eventualitäten erwogen, und außer "mythischer Atmosphäre" nix gewesen. Nur ein scharfer Wind um die beiden Häuser dieses hohen Tons.

Noch atmosphärischer wird es 2007/08 zur exquisiten Ausstellung "Die Basis des Make-Up" von Heinz Emigholz im Hamburger Bahnhof, Berlin. Das Begleitheft des "Museums für Gegenwart" enthält u. a. einen Text von Hartmut Bitomsky, dem derzeitigen Leiter der Deutschen Film- und Fernsehakademie Berlin (DFFB): "Ein rätselhaftes Werk". Da heißt es von einer der Zeichnungen des Filmemachers: "Es ist ein Ensemble von Banalitäten. Bedeutung, Sinn, zweite Denotation sind abwesend. Die Zeichnung stellt Dinge und Worte dar, aber ihre Darstellung schweigt entschlossen. Es handelt sich um Objekte, die entweder Gegenstände eines erloschenen Begehrens sind oder aber von einer grausamen Insignifikanz. Jedoch, da sie Bestandteil einer Zeichnung sind, und als solche durch die Arbeit, die es kostet, sie ins Bild zu setzen, begabt werden mit einer flehentlichen Anrufung, einen Sinn zu machen - nur kennt man ihn nicht, umgibt sie die Vorahnung, da sei mehr ins Bild gesetzt, als das Auge erfasst und das Denken erschließt. [sic]" (S. 15)

Genau dasselbe Gefühl hatte ich auch beim Ansehen von Emigholz' 300 Zeichnungen aus 30 Jahren. Es ist unmöglich, in diesen fein gesponnenen Schichtungen von schematisierten und gekritzelten, flächigen und linearen Einzelheiten Zusammenhänge zu sehen: filmische Ikonografien, Antithesen, Serien, Reflexionen von Bild und Schrift, Konfrontationen von Tradition und Moderne, Technik und Kunst, Kommerz und Gefühl, Politik und Privatem. "[D]as Auge erfasst" und "das Denken erschließt" es nicht, wie da jemand mit enormer Konsequenz an einem bildnerischen Projekt arbeitet, das als Grafik Mankos kontert und Grenzen erweitert, die der Filmkamera gesetzt sind und gerade darin das Zeitalter der technischen Bilder differenziert kommentiert wie kaum ein anderes Beispiel musealisierter Kunst. Wo alles Wiedererkennbare flimmert in Umriss, räumlichen Verhältnissen, sprachlichen Benennungen und ihren Ebenensprüngen.

Aber das wäre zu viel für uns. Wir haben schon allerhand zu tun mit Informations und gesellschaft. Noch einmal hat Nicodemus so was von Recht mit ihrer 2002er ZEIT-Rezension von Pedro Almodóvars "Sprich mit Ihr" (Hable con ella, E 2002): "Seine Farben, seine Musik, seine Figuren - alles an seinen Filmen ist sich darüber im Klaren, dass Kino immer wieder da anfängt, wo die Sprache aufhört." Sag mir, wo die Bienen sind, wo sind sie geblieben....


Daniel Hermsdorf

 

 

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