Denk mal
November 2007
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1   Experiment in Terror
USA 1962. R: Blake Edwards

Sony
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2   Experiment in Terror
USA 1962. R: Blake Edwards

Sony
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3   Wild at Heart
USA 1990. R: David Lynch

Universal
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4   Experiment in Terror
USA 1962. R: Blake Edwards

Sony
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5   Wild at Heart
USA 1990. R: David Lynch

Universal
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6   The Fugitive Kind
USA 1959. R: Sidney Lumet

MGM
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The Fugitive Kind . Der Mann in der Schlangenlederhaut. USA 1959. R: Sidney Lumet
Produktion: Pennebaker Productions / DVD: 20th Century Fox

Experiment in Terror. Der letzte Zug. USA 1962. R: Blake Edwards
Produktion: Columbia / Geoffrey-Kate Productions / DVD: Sony

Wild at Heart. Wild at Heart - Die Geschichte von Sailor und Lula. USA 1990. R: David Lynch
Produktion: PolyGram / Propaganda Films / DVD: Universal

Twin Peaks. Das Geheimnis von Twin Peaks. USA 1990. R: David Lynch
Produktion: Lynch/Frost / Spelling Entertainment / Twin Peaks / DVD: Paramount

Blake Edwards "Experiment in Terror" beginnt mit einer Autofahrt. Kelly Sherwood (Lee Remick) fährt zu ihrem Wohnhaus in Twin Peaks, einem Vorort von San Francisco. Wir sehen das Ortsschild rechts in einer Totalen (Abb. 1), während ihr Wagen sich von der Kamera entfernt. Noch läuft die Credit-Sequenz. Das lässt den in den 1990er Jahren sozialisierten Filmegucker natürlich aufhorchen. So oft taucht dieser Ortsname in der Filmgeschichte nicht auf; am prominentesten jedenfalls 1990 als Titel der TV-Serie von David Lynch.

Doch damit nicht genug: Schon in dieser Eingangssequenz lauert die nächste Szene, die von Lynch fast dreißig Jahre später zitiert werden wird. Kelly wird in ihrer Garage von einem Mann überrascht und bedroht, dessen Gestalt hier noch verschattet bleibt. Er erpresst die Bankangestellte, für ihn 100.000 Dollar zu stehlen; anderenfalls werde er sie oder ihre jüngere Schwester Toby (Stefanie Powers) umbringen. Die Szene mit Täter und Opfer ist exzeptionell zeitlich gedehnt: Nur langsam teilt der Erpresser seine Absichten mit und umklammert währenddessen den Hals der Frau, die sich ängstlich nach ihm umsieht, ohne sein Gesicht zu erblicken (Abb. 2). Diese bildliche Figurenkonstellation ist in der Filmgeschichte keine Seltenheit. Immer und immer wiederholen sich die Szenen eines sadistischen Machtverhältnisses, das sich meist über bedrohliche Waffen an Frauenhälsen artikuliert (siehe im "filmdenken" die Bemerkung zur ARD-Serie "Die Kommissarin", 2005). Lynch zeigt dies nach den sadistischen Orgien in "Blue Velvet" (USA 1986) 1990 in "Wild at Heart", seinem Kinofilm über ein Gangsterpärchen. Von dessen Komplizen Bobby Peru (Willem Dafoe) wird die weibliche Hauptfigur Lula Fortune (Laura Dern) in einer Szene stark verängstigt, bleibt dann jedoch - wie Kelly in dem früheren Film - körperlich unbeschadet zurück. Hier wird der sexuelle Subtext des früheren Films in einer stärker ausgeleuchteten Szenerie explizit. Bobby fordert die Frau des Komplizen auf, "Fuck me" zu ihm zu sagen. In Lynchs Serie "Twin Peaks" ist das weibliche Mordopfer Laura Palmer (Sheryl Lee) dann Ausgangspunkt der weit verzweigten Handlung.

Im Verlauf von "Experiment in Terror" erfahren wir, dass es sich bei dem Gangster um Garland Humphrey 'Red' Lynch (Ross Martin) handelt. Er ist ein psychopathischer Mörder, der schon wegen zwei anderer Tötungsdelikte an Frauen gesucht wird. Damit ist Koinzidenz Nr. 3 gegeben: Der Killer trägt einen Nachnamen, der zu diesem Zeitpunkt in der außerfilmischen Realität auch einem 16jährigen David L. zueigen ist. Ob dieser Edwards' Film schon in seiner Jugend oder erst später gesehen hat, wäre eine Interviewfrage an ihn. Interessant wäre, ob er es schafft, "Nein" zu sagen.

Aufschlussreich ist auch Koinzidenz Nr. 4: Die männliche Hauptfigur von "Wild at Heart", Sailor Ripley, trägt eine Sonnenbrille (Abb. 5), die dem Augenschein nach identisch ist mit jener, die in "Experiment in Terror" in mehreren Szenen Red Lynch trägt, so mit grimmiger Miene bei einem erpresserischen Anruf (Abb. 4). (Abb. 5 zeigt Sailor an der Haustür von Perdita Durango [Isabella Rosselini], die mit ihren blondierten Haaren in dieser Kameraperspektive wiederum an seine derzeitige Geliebte erinnert.) Die Sonnenbrille ist nicht nur ein Zitat des früheren Films, das wie die sadistische Szene ein Vorbild aufruft und modifiziert. Es sind prinzipiell antagonistische Figuren der beiden Filme, die durch das Requisit Sonnenbrille miteinander synthetisierend verbunden sind: Trotz mancher Missetat ist Figur Sailor bei Regisseur Lynch eine Identifikationsfigur. Bei Regisseur Edwards ist Figur Lynch der Psycho-Killer. Im historischen Kontext wird damit auch Sailor ambivalent: Der Regisseur Lynch setzt ihm eine Brille auf, die in einem älteren Film der Sadist namens Lynch trägt.

Dies wird ergänzt durch eine weitere Spielerei mit der historischen Referenz, Koinzidenz Nr. 5: Der Nachname von Sailor ist in "Experiment" jener des ermittelnden Polizisten John 'Rip' Ripley (Glenn Ford) - dieser ist der moralisch integre Gegenspieler von Red Lynch. Damit verkörpert Sailor Ripley die handlungslogischen Gegensätze von "Experiment" in einer Person. Das moralische Votum von Edwards' Film, in dem der Gesetzesbrecher vom Polizisten zur Strecke gebracht wird, wird so zu einer unauflöslichen Vereinigung der Widersprüche. Sailor ist gut und böse konnotiert.

Eine andere Referenz ist in Texten zu "Wild at Heart" schon des öfteren bemerkt worden: Die bei Sailors anfänglicher Entlassung aus dem Gefängnis szenisch ausgestellte Schlangenlederjacke ist das Erkennungszeichen von Valentine 'Snakeskin' Xavier (Marlon Brando), der 1959 in Sidney Lumets "The Fugitive Kind" wie Sailor in "Wild at Heart" zu Beginn aus dem Gefängnis entlassen wird. Die Geschäftsbesitzerin, der er sich zuwendet, wird von Anna Magnani gespielt, die wiederum schon unter der Regie von Isabella Rosselinis Vater Roberto vor der Kamera agierte. Die in der Besetzungsliste von "The Fugitive Kind" als "einsames Mädchen" bezeichnete junge Frau wird von einer gewissen Debbie Lynch gespielt, über deren späteren Werdegang leider nichts in Erfahrung zu bringen ist. Hoffentlich ist es ihr besser ergangen als den anderen einsamen Mädchen, von denen hier die Rede war.

Daniel Hermsdorf